Rückblende, Teil 1: Das Krankenhaus
Der gesamten Rückblende soll ein Zitat von Freud voranstehen: „Durch Worte kann der Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben.“ Was auf Anhieb nicht nach der tiefsten seiner Weisheiten klingt, eher nach etwas, worauf auch Pfarrer Sommerauer mit ein wenig Glück hätte kommen können. Aber wenn man eine Ahnung hat, was Freud meinte, kann man das ruhig so stehenlassen. Und wenn man keine Ahnung hat, bekommt man sie vielleicht hier. Ich habe sie jedenfalls bekommen.
Es beginnt im Februar mit fünf Bier und einem Kater am nächsten Tag, Kopfschmerzen. Die Kopfschmerzen halten die Woche über an, und ich schleppe mich nachts zu den Resten abgelaufener Schmerzmedikamente, die noch im Haus sind, und werfe sie der Reihe nach in zunehmender Stärke ein, beginnend beim Aspirin. Nichts wirkt. Ich bin zu keinem Zeitpunkt davon überzeugt, daß es am Haltbarkeitsdatum liegen könnte. Was ein deutsches Medikament ist, das wirkt auch noch zehn Jahre später, sage ich mir.
Tagsüber habe ich mit der linken Hand – wie zuletzt oft – meine Teetasse umgekippt und in die Tastatur geschüttet, so daß mein Computer nicht funktioniert. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal krank gewesen zu sein bei gleichzeitigem Ausfall des Computers: Selbstdiagnose ohne Wikipedia unmöglich. Was der Brockhaus an schütterem Wissen von Migräne über Gehirnerschütterung bis Hirntumor bereithält, reicht nicht mal, um hypochondrisch zu werden. Ich gehe zurück ins Bett. Die Kopfschmerzen verschwinden und kommen heftiger wieder.
Weil ich gleichzeitig neurologische Ausfälle erinnere (zweimal mit der linken Schulter an einer Säule hängengeblieben, einen halben Meter vor den Stuhl gesetzt), gehe ich schließlich zum Hausarzt. Der schickt mich ins Bundeswehrkrankenhaus, weil es dort am schnellsten gehe, anderswo warte man oft drei Monate auf ein MRT. Ich laufe zu Fuß. Im Bundeswehrkrankenhaus holt man zuerst einmal die Kopfschmerzen mit Maxalt runter, einem Migränehammer, und diagnostiziert anschließend eine Sinusitis, die Ausfälle paßten zum Krankheitsbild.
Drei Nächte später sind die Kopfschmerzen erneut so schlimm, daß ich auf die Öffnung der Arztpraxen warte. Ich kotze meinem Hausarzt das Waschbecken voll und kriege einen Krankentransport ins Bundeswehrkrankenhaus. Den Dr. S. kenne ich jetzt ja schon, drei oder vier andere Ärzte testen meine Ausfälle. Am Ende bleibt es bei Sinusitis. Verbissen gehe ich den Weg vom Krankenhaus zu Fuß zurück, so schlimm kann es gar nicht sein, daß ich nicht mehr laufen könnte, und mache den Umweg über den Hauptbahnhof, wo es eine rund um die Uhr geöffnete Apotheke gibt.
Als ich zu Hause ankomme, glaube ich zuerst, sie haben mir das falsche Medikament verkauft, das erste Wort, das ich auf dem Beipackzettel für Amitriptylin lese, ist „Suizidgedanken“. Aber hilft wohl auch gegen Kopfschmerzen.
Jedenfalls bei manchen. Bei mir nicht. Als ich zwei Nächte später auf Toilette gehe, ergreift mich Schwindel, und ich falle um. Beim Versuch, wieder aufzustehen, kann ich das Gleichgewicht nicht halten. Beim Versuch, auf allen vieren in mein Bett zurückzukriechen, kippe ich zur Seite. Schließlich robbe ich flach auf dem Bauch wie ein Soldat unter Stacheldraht hindurch zum Telefon. Zum ersten Mal in meinem Leben wähle ich 110, und sofort setzt starke seelische Beruhigung ein durch den streng formalisierten Ablauf des Gesprächs. Kopfschmerzen, Sinusitis, Amitriptylin – ich spüre, daß mein Gegenüber zweifelt. Umfallen, auf den Bauch und nicht wieder aufstehen können – die Zweifel hören auf, die Fragen beginnen. Seitenflügel, vierter Stock? Sind Sie allein zu Haus? Können Sie die Tür öffnen? Ja klar, Mann, so weit kommt das noch, daß ich meine Tür nicht öffnen kann. „In fünf Minuten sind wir da.“ Das gibt mir Zeit, mich halb liegend, halb sitzend anzuziehen, anhaltend froh über das Bewußtsein einer höheren Ordnung, einer im Hintergrund arbeitenden und sinnreich von Menschen für Menschen erdachten Maschine, mit der einer lebensbedrohlichen Situation routiniert und regelkonform begegnet werden kann. Man möchte so was nicht in Marokko erleben. Eigentlich nicht mal in Italien.
Was nicht mehr geht, ist Schleife binden. Der Sanitäter bindet mir die Schuhe, während seine Kollegin mich in der Senkrechten hält und ich an die Papptafel in der Vorschule denken muß. Auf der Papptafel hundert bunte Schleifchen, unter jedem Schleifchen ein Name, obendrüber groß: „Meine erste Schleife“. Wie lange ist das her?
Ich bestehe darauf, mein Kopfkissen mitzunehmen, da ich zuletzt im Bundeswehrkrankenhaus den ganzen Tag ohne daliegen mußte. Dann an der Schulter des Sanitäters vier Treppen runter.
Im Krankenhaus wird ein CT gemacht, und ich liege im Bett, als Dr. S. kommt und mir das CT zeigt und von einer Raumforderung spricht. Ich frage, ob wir das Wort nicht besser durch Tumor ersetzen wollen, aber er bleibt, wie auch die anderen Ärzte in den folgenden Tagen und Krankenhäusern, lieber bei Raumforderung. Ich strecke meine Hand wortlos nach hinten, er ergreift sie und drückt sie einige Sekunden. Es folgt das MRT.
Ich bitte, einen Telefonanruf machen zu können. In meinem Portemonnaie ist ein kleiner Zettel mit Nummern, den ich mir vor vielen Jahren gemacht habe, bevor ich ein Handy hatte. Das letzte habe ich in Marokko verloren. Fast alle Nummern auf dem Zettel sind veraltet. Irgendwo Holms Handynummer, den ich anrufe und bitte, C. zu informieren. Als ich später noch einmal bei Holm anrufen will, kann ich trotz stundenlanger Suche die Nummer nicht mehr finden. Mein Portemonnaie, ein paar kleine Zettel und Karten und mein Schlüsselbund auf dem Krankenhaustischchen machen mich in ihrer Unübersichtlichkeit fast verrückt.
Das Bundeswehrkrankenhaus hat eine Kooperation mit dem Klinikum Friedrichshain, dorthin werde verbracht, mein Neurochirurg dort wird Prof. Moskopp.
Ich kriege sofort Besuche, und Holm erweist sich als das, was er schon immer war und was ich in den letzten Jahren, wo wir uns weniger gesehen haben, fast aus den Augen verloren hatte, als mit allen Eigenschaften des besten Freundes vorbildlich ausgestattet. Er leitet alles in die Wege und kümmert sich um alles.
Die Operation wird auf den nächsten Vormittag angesetzt, und nachdem Holm und Cornelius abends gegangen sind, ergreift mich Unruhe: Was, wenn ich nach der OP Gemüse bin, zu keiner Äußerung mehr fähig? Es ist immerhin das Hirn. Das ist, soweit ich mich erinnere, der erste Moment der Erschütterung und des Pathos. Ich erreiche Cornelius in der Kneipe auf dem Handy und erkläre: Solange ich noch mit der Wimper zucken kann – fragt mich – wenn ich noch Ja und Nein signalisieren kann – fragt mich und dann fragt mich wieder – und dann wie der Indianer in Einer flog übers Kuckucksnest. Das kriegt ihr hin, oder? Holm, der neben Cornelius sitzt, wirft das Wort Patientenverfügung ein, und am nächsten Tag habe ich das Blatt in der Hand, sehr viel sachlicher, runtergekühlter jetzt am Morgen, genau richtig formuliert.
So, wie ich mir das wünsche, wünschen es sich offenbar viele oder alle, da ist wieder Verlaß auf die Menschheit. Ich schreib noch drunter, daß ich Organspender bin, aber das hätte ich mir auch sparen können, wie sich bald rausstellt.
Morgens am 19. Februar ist die OP. Beruhigungsmittel brauche ich nicht. Ich bin vollkommen ruhig. Der Anblick der Apparate beruhigt mich. Mein Vertrauen in die Wissenschaft war immer grenzenlos. Sie können nicht alles. Aber sie versuchen es. Auf dem Weg zur OP taucht Julia auf, das blühende Leben, schwanger und schön, und nimmt meine Hand.
Abends das Erwachen auf der Intensivstation: Freunde, hieß es, warteten draußen, aber da erinnere ich mich an wenig. Ich erinnere mich, daß ich allein auf dem Rücken im Zimmer liege, und ein junger Arzt kommt durch, der bei der OP assistiert hat. Er berichtet, daß alles wie geplant verlaufen sei, verschwindet sofort wieder, und ich denke, wenn die vorläufige Histologie was Gutes ergeben hätte, hätte er’s gesagt. Also nichts Gutes. Ich mache mit Händen und Füßen unaufhörlich die neurologischen Übungen, die ich zur Genüge kenne, um zu testen, was von meinem Hirn noch übrig ist. Nur die linke Hand ist etwas unbeholfen. Ich entdecke eine taube Stelle auf der Stirn, aber sonst keine weiteren körperlichen Ausfälle. Allein das Denken scheint mir stark verlangsamt, und ich bin nicht sicher und kann es mit meinem verlangsamten Denken auch nicht untersuchen, ob es an der Narkose liegt oder an mir.
Cornelius berichtet später: „Der einzige schöne Moment war bislang, als der Arzt uns reinführte nach der OP, ‚Das sind Ihre Freunde. Erkennen Sie die?‘, und Wolfgang starrt uns an und sagt langsam: ‚Nein.‘ Nach 5 gar nicht so kurzen Sekunden: ‚Klar erkenn ich die, stellt mir eine Logikfrage‘, und uns dann mit ‚zu leicht, ausserdem Erinnerungswissen, nicht Logik‘ und Schacheröffnungen demütigte.“
Woran man sieht, daß Cornelius kein Schach spielt. Ich eröffne gegen Marek mit a2-a4, Marek antwortet irgendwas, und danach weiß ich nicht mehr, wo die Figuren sind, und halte es für Caro-Kann. Wobei auch kein riesiger Unterschied zu sonst: Wenn Marek und ich Blitzschach spielen, kommt es schon vor, daß der König zehn Züge lang im Schach steht.
An der Wand ist ein verdrecktes Lüftungsgitter. Die ganze Nacht habe ich den Eindruck, es seien Buchstaben in elf Feldern des Gitters zu lesen. Nach Stunden habe ich sie endlich entziffert: COMPETITION. Okay, Competition. Könnt ihr haben, denke ich. Am Morgen sind die Buchstaben verschwunden.
Um sechs wechselt die Pflegeschwester, und ich versuche auf der Uhr, die rechts über der Tür hängt, herumzurechnen, wie lange ich bis zum nächsten Schichtwechsel warten muß. Von sechs Uhr drei Mal acht Stunden dazuzählen und wieder bei sechs Uhr landen, ist mir unmöglich. Ich komme immer bei dreißig raus und kann nicht rausfinden, was dreißig für eine Uhrzeit sein soll. Sprachlich scheint dagegen alles okay zu sein, ich finde Worte für dieses Uhrversagen, aber die Rechenleistung: Null. Es scheint mir ein zu verschmerzender Verlust. Dann werde ich in Zukunft weniger abstrakte Romane schreiben. Als es mir im Morgengrauen gelingt, zwei zweistellige Zahlen (17 und 23) miteinander zu multiplizieren, beruhigt es mich dennoch.
Passig steht irgendwann mit der Hüfte an einen Tisch gelehnt und hinterläßt einen Brief, in dem steht, daß bei der Häßlichkeit meiner Bettwäsche Krebs die notwendige Folge sei. Ich brauche lange, um herauszufinden, welche Bettwäsche sie meint und daß sie bei mir zu Hause war.
Ich schwitze so stark, daß ich die Schwester fragen muß, ob ich auf Kühlkissen liege. Morgens werde ich gewaschen. Die Schwester ist Vietnamesin, ich verstehe kein Wort ihrer konsonantenfreien Rede und freue mich an der Vorstellung, wie es wäre, als Mitglied des Weißen Arischen Widerstands in dieser Lage zu erwachen. Die Frau wäscht mich und hilft mir, mich selbst zu waschen, und sagt, daß es mir jetzt besser ginge, und recht hat sie.
In den folgenden Tagen bekomme ich viel Besuch, viele Anrufe und viele Briefe und freue mich über jeden einzelnen. Ich kann nicht sagen, wie jedes Wort und jede Geste mich rührt. Man spürt, wie man mit einem Bein schon drüben steht, und man spürt, wie sie auf der anderen Seite noch an einem zerren. Holm bringt Unterwäsche ins Krankenhaus, ich hatte ja nichts dabei. Ich hatte meine zerrissenste Hose an, als der Arzt kam. Holm bringt auch Luke mit, und es zeigt sich, was sich auch in den nächsten Tagen zeigen soll, daß Kinder mir jetzt irgendwie den Stecker ziehen. Einmal verfüttere ich meinen ganzen Kartoffelbrei an Luke.
Eine meiner ersten Vorstellungen am ersten Tag nach der Intensivstation ist, wie ich in einem Haus am See wohne, Frau und Kind habe, und neben uns wohnt eine mit uns befreundete Familie mit Frau und Kind, und einmal rette ich den Mann, weil er im Eis eingebrochen ist, und rufe den Krankenwagen.
Ich habe einen Fernseher, aber auf 15 Kanälen läuft nichts Gescheites. 22 Leute und ein Ball auf grünem Rasen, ich kann lange hingucken, ohne zu begreifen, ob die Weißen jetzt Hertha oder Bayern sind, und wenn ich es herausgefunden habe, vergesse ich es sofort wieder.
Was mich deutlich mehr beschäftigt, und das ist ein erster Schritt in Richtung Regression, die sich in den nächsten Tagen und Wochen auf so vielen Gebieten bemerkbar machen wird, ist die Begeisterung für Literatur.
Ich bin Schriftsteller, und man wird nicht glauben, daß Literatur mich sonst kaltgelassen hätte. Aber was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät regelmäßig und danach nur noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte: daß man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewußtsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst, um ehrlich zu sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in Filmen, und daß es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zuviel gelesen habe, eine Unterscheidung, die mir nie fremd war, aber unter Gewohnheit und Understatement lange verschüttet.
Man kann das natürlich auch kritisch sehen: Das Absacken in die Phantasiewelt als Ausdruck vollkommener Hilflosigkeit.
Ich lese DeLillo, den ich schon vor der OP angefangen hab, kann mich aber an vieles aus den letzten Kapiteln nicht erinnern und muß sie noch mal durchackern. Ich brauche drei Stunden für zehn Seiten, es ist der Tag nach der OP, aber es begeistert mich, fast jeder Satz wirft mich um, und ich denke mit Verzweiflung an meine eigenen Projekte. Ich hab dreieinhalb Romane angefangen in den letzten Jahren, einen Jugendroman, einen in der Wüste spielenden Krimi mit B-Picture-Plot und einen Stimmenroman, zuletzt noch ein Konzept eines SF-Romans, eine Hommage an Philipp K. Dick. Die ersten drei haben alle schon Anfang und Ende und jeweils zwischen 300 und 600 Seiten, aber nichts davon ist geordnet, richtig zusammengefügt oder überarbeitet. Diese Überarbeitung habe ich die letzten Jahre immer wieder in Angriff genommen und mich in immer neuem Material verloren, im jugendlichen Bewußtsein, noch ewig zu leben. Könnte jemand das für mich fertigschreiben? Passig? Lars? Irgendwer? Wollten sie?
Alles vergeblich, mit meinen Fragmenten wird niemand etwas anfangen können. Ich hoffe, daß Passig oder Lars wenigstens in der SF-Idee etwas Brauchbares entdecken können, und überlege angestrengt, wie die anderen Dateien zu vernichten seien. Das Eingeständnis der kompletten Sinnlosigkeit des eigenen Lebens. Nichts Neues, aber so grauenvoll war es selten.
Als ich am nächsten Tag DeLillo weiterlesen will, erinnere ich mich an nichts. Was macht Lee Harvey Oswald in Rußland? Wie ist er da hingekommen? Wer ist der Mann? Alles, was ich tags zuvor unter größter Anstrengung begeistert gelesen habe, ist von meiner Festplatte gelöscht. Auf hundert Seiten erkenne ich keinen Satz. In Panik hole ich Primo Levi raus, den ich ebenfalls tags zuvor, aber etwas später gelesen habe, und da weiß ich beim ersten Satz sofort: Wenn er jetzt nach links guckt, steht da der SS-Mann. Glück gehabt. Es ist noch immer die Narkose, nicht das Hirn.
Auschwitz-Lektüre überhaupt das Aufbauendste von allem. Sogar das Essen schmeckt danach doppelt so gut.
Die Histologie verschiebt sich immer weiter, am 25.2. ist es soweit: Prof. Moskopp erklärt, es sei ein Glioblastom. Das ist etwas Gehirneigenes, das bildet keine großen Metastasen, wächst nur sehr schnell, läßt sich nicht endgültig bekämpfen und ist zu hundert Prozent tödlich.
Ich höre kaum zu. Während Prof. Moskopp redet, fällt mir ein, daß ich mich nie wieder verlieben werde, nie wieder wird sich jemand in mich verlieben. Stinkend und krebszerfressen.
Könnten Sie den letzten Satz noch mal wiederholen?
Abends gehe ich mit C. aus, ich habe Lust auf Kino, und im Friedrichshain läuft A Serious Man. Weil noch viel Zeit ist, laufen wir durchs Viertel, und wir machen etwas, was ich sonst zuletzt vor zwanzig Jahren gemacht habe: Unangemeldet Leute besuchen. Bei Holm sind überraschend alle versammelt, und fast alle gehen auch nachher mit ins Kino, und es ist einer der schönsten Tage überhaupt. Auch einer der schönsten Filme. Ich lehne mich zu C. rüber und erzähle ihr, wie glücklich ich bin, und es ist keine Lüge. Ich bin unfaßbar glücklich, solche Freunde zu haben.
Da ich außer Paracetamol und Cortison keine Tabletten genommen habe, ist es ein offenbar körpereigener Drogennebel, den mein Hirn da gnädig ausschüttet, und ich bin jetzt wach genug, es als Kontrollverlust zu erleben. Ich spüre, daß ich nicht mehr Herr im eigenen Haus bin, aber wenn es so schön ist, habe ich auch nichts dagegen. Ich frage auch die Ärzte nicht, ob mein Körper die Standardreaktion zeigt, da ich fürchte, ihre Antwort könnte sein, daß es danach ebenso standardisiert in einen noch viel tieferen Abgrund gehe.
Doch der Abgrund kommt nicht.