Dreiundzwanzig

20.12. 2011 13:36

„Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.“

Ja, gut. Aber mit seiner Prätention, seinem Mangel an Furcht vor Tabubrecherei, der Selbstinszenierung und dem Geplapper segelt Rousseau doch einige Galaxien weiter am uneinlösbaren Anspruch vorbei als der fast zeitgleich schreibende K.P. Moritz.

Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. Oft erst im Nachhinein im Überschwang spontaner Selbstdramatisierung erkennbar falsch und ungenau Beschriebenes wird neu beschrieben, Adjektive getauscht, neu Erinnertes ergänzt. Aber nichts erfunden. Das Gefasel von der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und der Unzulänglichkeit der Sprache spar ich mir, allein der berufsbedingt ununterdrückbare Impuls, dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken, die sich im Akt des Schreibens immer wieder einstellende, das Weiterleben enorm erleichternde, falsche und nur im Text richtige Vorstellung, die Fäden in der Hand zu halten und das seit langem bekannte und im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte Ende selbst bestimmen und den tragischen Helden mit wohlgesetzten, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt –

23.12. 2011 19:00

Bei den Eltern. Mail eines anderen Glioblastoms, die ankündigt, die letzte zu sein.

Zwei Stunden im Regen spazierengegangen. Glasmoorstraße, Hofweg, Grüner Weg, wo ich vor 26 Jahren ging, in einer ähnlichen Nacht, Strommasten und Mond über mir, schreiend. Egal, alles entsetzlich egal.

24.12. 2011 14:00

Die Bumerangs, die im Keller meines Vaters noch lagern, geworfen auf dem Sportplatz am Süd, wo ich auch Bretfeld zum letzten Mal begegnete. Fast alles über Tuning und Anstellwinkel vergessen, auch mit langem Rumprobieren nur die schlichtesten Geräte drei oder vier Mal gefangen. Nieselregen, böiger Wind.

Im kleinen Karree Fußball gespielt gegen meinen Vater, er gewinnt 20:19.

28.12. 2011 19:19

Erinnerung: Mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Süd, wo ich jeden Dienstag das Mädchen, in das ich hoffnungslos verliebt war, aus der Ferne sehen konnte. Ich Handball, sie Volleyball, sommerliche Wärme, große Aufregung, und dann plötzlich dieses Geräusch – Baustelle? Schutzblech lose? Zweig in den Speichen? Endlos lange Sekunden, um zu begreifen, daß das Klackern aus meinem Mund kam. Ich konnte die Zähne zusammenbeißen, dann war es weg, und wenn ich wieder locker ließ: Kastagnetten.

Schlotternde Knie, klappernde Zähne, markerschütternde Schreie: Der ganze Kosmos der Angst- und Panikreaktionen war mir immer viel weniger aus der Sprache, über die ich mir selten Gedanken machte, als aus Comics bekannt (Wasserpfütze zwischen den Füßen, Wackelstriche um die Knie, „klacker klacker klacker“ neben den lose im Mund herumwürfelnden Zähnen), und mein Entsetzen, meinen Körper diese auf Entenhausen beschränkt scheinenden Phänomene unkontrolliert reproduzieren zu sehen, war jedesmal fast genauso entsetzlich wie das eigentliche Geschehen.

2.1. 2012 11:30

Nachsorgegespräch. Status epilepticus, Chemobrain, die offenbar nicht zu unterschätzenden Einflüsse der Psyche bei den durch Gabe von Zytostatika und noch lange nach der Gabe allein nicht erklärlichen Zustandsverschlechterungen des Krebspatienten.

Sie arbeiten? Dann arbeiten Sie weiter. Den ganzen Tag am Rechner? Was für ein Rechner? Macbook?

Sowohl mit dem Bildschirm als auch mit dem Zustand seines Patienten ist Dr. Badakhshi sehr zufrieden.

4.1. 2012 22:36

Endlich wieder geschrieben, währenddessen die ganze Zeit Wulffs Selbstdemontage verfolgt.

Abends auf dem Weg von C. zu mir, aus der Burger-King-Ausfahrt hinter der S-Bahn Tiergarten kommt ein weißer Kleinwagen. Ich sehe ihn, ich könnte bremsen, aber mir scheint, er bremse auch, außerdem habe ich Vorfahrt. Doch er bremst nicht. Mitsamt Fahrrad und einer Drehung um die horizontale Achse katapultiert es mich auf die Straße.

Nichts passiert, erster Gedanke, nichts gebrochen, elegant abgerollt.

Zwei Frauen steigen aus. Zusammen mit Passanten setzen sie mich auf den Bordstein. Ich spucke Blut, ich habe mir auf die Zunge gebissen. Sie wollen die Polizei rufen. Auf keinen Fall Polizei, keine Polizei, kein Krankenwagen, alles in Ordnung, sage ich, bestens. Ich will sofort weiter, den idiotischen Wulff in den Abendnachrichten sehen. Die Beifahrerin lacht die ganze Zeit hysterisch, hüpft über die Straße, faßt mich an und freut sich, daß mir nichts passiert ist. Ich bin so froh, ruft sie, ich bin so froh. Dann kommt die Polizei, man fährt mich ins Virchow-Klinikum. Ich kann das linke Bein nicht beugen. Reden Sie mit mir, sagt der Notfallmann. Wissen Sie, was ein Glioblastom ist? Nein, weiß er nicht. Er legt mir eine Halskrause an, ich schreie vor Schmerzen, er nimmt sie wieder ab.

Sieben Mal röntgen: Oberschenkel nicht gebrochen, nur riesige Prellung. Halswirbelsäule nicht luxiert, wie vermutet, dafür Schultereckgelenksprengung.

Nachts holt Lars mich ab, Gelächter (du schon wieder, hier schon wieder), und bringt mich zu C.

5.1. 2012 14:33

Virchow-Klinikum will nicht operieren. Chemo, zu risikoreich, lohnt nicht mehr, behandeln wir konservativ. Arm ein paar Wochen fixieren, bleibt der eingeschränkt bewegungsfähig. Melden Sie sich morgen in unserer Sprechstunde.

Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will das Handtuch werfen. Lange Diskussion mit C., schließlich Witze, Albernheit.

Anruf bei der Polizei. Ohne den Zettel mit der Vorgangsnummer, den ich beim Transport verloren habe, kann man nichts für mich tun. Sie können nicht rausfinden, wer mich da vom Fahrradweg gekegelt hat? Nicht ohne die Vorgangsnummer, die Ihnen gestern ausgehändigt wurde. Sie können das nicht sehen bei sich da? Nein. Himmel.

10.1. 2012 18:21

Klinikum Friedrichshain operiert. Sonntag Einlieferung, fünf Stunden in der Aufnahme, Anfall, Stimmen, Licht. Montag OP, Aufwachzimmer, zwei Schmerzmittelinfusionen, eine dritte krieg ich nicht, weil ich angeblich schon zu atmen vergesse. Nachmittags über Boden und Schuhe gekotzt, Schwester läuft durch, die Nacht schweißgebadet und schlaflos. Dienstag ersten Arzt gesehen. In sechs Wochen kommt der ums Schlüsselbein gewickelte Draht in einer ebensolchen Operation wieder raus.

Normal lächerlich, normal alles aushaltbar, aber hier jeder kleinste Optimismus durchkreuzt vom Gedanken: Gesund entlassen sie dich in den Tod.

Drei Monate ohne Arm.

11.1. 2012 19:00

Johann Holtrop, Johann Holtrop, Johann Holtrop. Cornelius, der die Nachricht überbringt, kann sich überhaupt nicht beruhigen. „Der charismatische, schnelle, erfolgreiche Vorstandsvorsitzende Dr. Johann Holtrop … Jahresumsatz … Boomzeit der 90er Jahre … schlechte Geschäftsergebnisse … unter Druck.“

Sätze wie „Zuerst kommt Holtrops Familie in den Blick, die der Schauplatz der reaktiven Depression nach der Entlassung ist“ legen die Vermutung nahe, daß Goetz am Blurb wenigstens mitgewirkt hat. Suhrkamp peilt Juli an. Selten sah man Herrn Reiber ratloser. „Ein totaler Absturz ins wirtschaftliche Aus und das gesellschaftliche Nichts, so fürchterlich, wie sein früherer Aufstieg glorios gewesen war.“

12.1. 2012 14:02

Frisch aus dem Krankenhaus, Post von der Polizei: Frau Schmitz, die mich unter Zuhilfenahme ihres Autos über die Straße des 17. Juni geschossen hat, hat Anzeige gegen mich erstattet, tatsachenwidrige Schilderung des Unfallhergangs inklusive. Das mache man so, meint Steffi, auch als Zeichen an die eigene Versicherung, daß da wenigstens was versucht wurde.

Im Bett endlich eine Position gefunden, in der ich eine Weile ruhig liegen kann. Jede Nacht Alpträume, in denen ich nicht enden wollende Anfälle habe, vor meinen Freunden wegrenne, stumm bin inmitten italienischer Landschaften, aphasisches Erwachen.

13.1. 2012 17:20

Meine entsetzliche Dankbarkeit, die dazu führt, daß ich mit Freunden spreche wie mit wohlgesinnten Behörden: Danke, danke nochmal, danke, vielen Dank.

14.1. 2012 19:56

Zu Fuß den ganzen Weg zu C. gehumpelt, Fahrrad am Burger King abgeholt, fast unbeschädigt. Kette ab, Korb eingedetscht, Licht ist an und funktioniert, das hat der das Rad abschliessende Polizist hoffentlich notiert.

Einfahrt mit Schritten ausgemessen: Metallschiene der Burger-King-Ausfahrt, dann 8 m Gehweg, dann 2 m Fahrradweg (dort ich, vom Einsteinufer kommend in falscher Richtung), dann 3 m Gehweg, dann Strasse des 17. Juni. Freies Sichtfeld.

19.1. 2012 15:07

Das Unternehmen Carl Gross will mir einen Anzug schenken. Lustig. Vielleicht hätte ich mehr Zeit auf die Beschreibung des Alfa Spider verwenden sollen.

Der Hausarzt dokumentiert mein blauschwarzes Bein. Die zehn Kilometer zu C. und zurück jetzt trotzdem immer zu Fuß, auf der Flucht vor der Fatigue.

Seit Tagen werde ich die Melodie des deutschen Afrikakorps in meinem Kopf nicht los, des Führers verwegene Truppen, vorwärts mit unserem Rommel. Immerhin muß ich nicht noch mitsingen, medizinisch betrachtet ein Guido-Knopp-Schaden.