Rückblende, Teil 10: Der Pinguin
Im Laufe des Tages sitze ich am Rechner und schreibe. Ich bin immer noch rasend schnell unterwegs, suche nach Erklärungen für meinen gestrigen Ausfall und schicke eine Mail an Kathrin und C., in der ich eine genaue Analyse der selbsthypnotischen Vorgänge meines Innern liefere, verbunden mit der Aufforderung an beide, mir zu bestätigen, daß sie starkes Mitgefühl mit mir empfänden, welches sie jedoch nicht zu kommunizieren wagten. Das habe ich kraft meiner Logik nämlich herausgefunden: daß sie ihr Mitleid vor mir verbergen aus Angst, etwas Ähnliches auszulösen wie Jana mit ihrer belegten Stimme.
Dies klar erkannt zu haben ist für mich der Beweis, daß mein Gehirn noch nicht in völliger Auflösung begriffen ist, sondern im Gegenteil auf der empathischen Ebene ganz prächtig funktioniert, und ich verlange vehement die Bestätigung meiner Beobachtung.
C. verweigert sie mir zuerst per Mail und dann telefonisch und schickt mir stattdessen eine über Skype alarmierte Delegation aus Kirk, Kathrin und Marek ins Haus, die sich nach meinem Befinden erkundigen soll. Hocheuphorisch verlange ich von Kathrin abermals die Bestätigung meiner ohne Zweifel richtigen Beobachtung. Ich brülle sie an, endlich Ja zu sagen, und als sie sich weigert, mich, wie sie sagt, in meinem Wahn zu unterstützen, erkläre ich, daß ich sie in diesem Fall erwürgen werde. Mit nach vorn gestreckten Armen fährt mein Körper wild in der Küche herum. Aus den Augenwinkeln sehe ich Marek auf dem Stuhl sitzen: angespannt; aber er ist nicht aufgesprungen, um mich zurückzuhalten, woraus ich schließe, daß ich nicht wirklich die Absicht habe, Kathrin zu erwürgen. Ich gebe mir das bestätigende Ja schließlich selbst, weil ich weiß, daß ich mich ohnehin nicht irre, und dem Drängen, mich erneut in die Psychiatrie einzuliefern, gebe ich rasch nach.
Beim Ankleiden sehe ich im Badezimmer das Pinguinkostüm herumliegen, das Kathrin beim Tough Guy getragen hat, und schlage vor, es auf dem Gang in die Psychiatrie zu tragen. Wenn man sich einmal im Leben schon selbst dort einliefert, scheint mir, dann richtig. Außerdem, vermute ich, wird es uns ein paar Formalitäten ersparen. Auf dem Weg spielen wir die Erwürgen-Szene noch einmal nach, um das Theaterhafte daran zu betonen und die mittlerweile dazu eingetreten Distanz.
„Mein Name ist Wolfgang Herrndorf“, sage ich am Empfang, „und ich möchte mich in die Psychiatrie einweisen.“
Das finde ich wieder ungeheuer komisch. Während die Krankenschwester meine Daten aufnimmt, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen: „Ich bin übrigens nicht verrückt!“ Und ohne mit der Wimper zu zucken, antwortet sie: „Das hatte hier auch niemand gedacht.“
Das Gespräch mit der diensthabenden Ärztin ist kurz. Sie fragt meine Freunde, ob Gewalttätigkeit und Aggression zu meinen normalen Charaktereigenschaften gehören, und Kathrin verneint. Daß solche Gespräche über mich in meiner Anwesenheit und in der dritten Person Singular geführt werden, verwandelt mich erneut in ein diskretes Gemüse, aber es beschämt mich nicht. Zu diesem Zeitpunkt mache ich mir schon keine Illusionen mehr. Ich kriege die nächste Zyprexa, Tavor dazu, und ein Bett auf der Psychiatrie.
In diesen Stunden sind wir noch drei in meinem Kopf: Walther, Wolfgang und Wilhelm. Nach der Verlegung auf die Neuropsychiatrie und den ersten Diagnosen kommt noch ein unpersönlicher Hebel zur Manieregulation hinzu (der über vorgestellte Lebenserwartung funktionieren soll und nicht wirklich funktioniert) und schließlich eine Königin, Neue Regentin genannt, die als endgültig externalisiertes Über-Ich über allem Stimmengewirr thront und sich als noch durchschlagender als die Walther entpuppt, sowohl im Kampf gegen den Todesgedanken als auch gegen den überbordenden Mitteilungsdrang, der mir langsam das Leben schwer macht. Insbesondere den Drang, den Ärzten von den tollen Zuständen in meinem Kopf zu erzählen. Jede Mitteilung, die ich in dieser Richtung anfangs mache beim Versuch, mein Glück zu beschreiben, bringt mir weitere Tage auf der Station ein. Und ich will raus, dorthin, wo ich die beruhigende Wirkung des Alltags wiedererkenne: in meine Wohnung, in mein Sozialleben und an den Computer.
Eines nachts liege ich wach und stelle fest, daß ich die Walther auf beliebige Gegenstände richten kann, um sie aus meinem Bewußtsein zu schießen. So kann ich zum Beispiel minutenlang nicht an einen roten Elefanten denken, wenn ich will.
Ich habe zu keinem Zeitpunkt eine reale Angst, überhaupt nicht mehr rausgelassen zu werden aus der Psychiatrie. Aber man muß mit seiner Weltwahrnehmung schon sehr tief gesunken sein, um als Insasse nicht zu spüren, wie schmal der Grat zwischen Freiheit und längerem Zwangsaufenthalt ist (so schmal wie der Grat zwischen Psychose und keiner Psychose, schätzungsweise). Und weil ich meinen Mitteilungsdrang selbst nur schwer in den Griff kriege, verbietet mir die Königin schließlich jede Kommunikation über mein Inneres mit Ärzten, Freunden und Bekannten. Ob man mir von diesen Kämpfen äußerlich noch etwas anmerkt, weiß ich nicht. Glaube aber nicht. Genausowenig, wie ich beurteilen kann, ob diese letzte Aktion der Königin noch Ausgeburt des Wahnsinns ist oder nicht vielmehr die bildliche Rückkehr der Vernunft, welche sinnlos überbordenden Mitteilungsdrang ja auch sonst mit Verbot belegt.
Die Königin lacht noch einmal triumphierend, als ich die Neuropsychiatrie verlassen darf und verschwindet bald darauf mit den anderen Schatten zusammen.
Allein die Walther ist als Gegenstand irgendwie verblieben, aber ohne Gegner läßt sie sich nicht beleben. Die Mitteilung, daß ich sterben muß, dringt in diesen Tagen noch zu mir durch, versickert aber in den höheren Schichten des Bewußtseins im relativistischen Sand.
Und den Rest habe ich ja schon erzählt.
PS: Sowohl im nachhinein als auch insbesondere währenddessen sehr bedrückender Gedanke: Daß man als Individuum auf diese Belastung nicht individuell reagiert, sondern superkonventionell, mit geradezu normiertem verrücktem Verhalten, das hunderttausend andere Verrückte an dieser Stelle auch schon vorgeführt haben, und also gar kein Individuum, keine psychisch autonome Einheit mehr ist. Das ist das tatsächlich Furchteinflößendste, während man drinsteckt: Man steckt auf einmal nicht mehr drin in etwas, was man bis dahin als Selbst wahrzunehmen gewohnt war, als Ich, so fragwürdig man die synthetische Konstruktion des Ichs auf einer intellektuellen Ebene schon immer empfunden hat (aber rein alltagstechnisch war dieses Ich doch sicher vorhanden), und dann löst es sich auf in das unpersönliche Agieren eines vom Evolutionsprozeß sehr sinnvoll und zugleich schwachsinnig an die Härten der Welt angepaßten durchschnittlich durchgedrehten Vertreters der Art. Was einem immerhin die Selbstbeobachtung erleichtert: Man weiß im Grunde sofort, daß man verrückt ist. Das heißt, ich wußte es. Und dann verdrängte ich es um der Hoffnung willen, so bleiben zu dürfen. Denn es ging mir fantastisch.
PPS: Überflüssig zu erwähnen, daß der bei Holm von mir verzweifelt gesuchte Text später doch noch aufgetaucht ist: Es ist dieser Text.