Rückblende, Teil 4: Das Moleskine
Das sonderbare Hochgefühl, das ich schon kurz nach der Histologie hatte, hält an und nimmt zu, von Schüben der Todesangst unregelmäßig unterbrochen. Am 2. März informiert mich die Strahlentherapeutin Dr. Zwei, daß auf den Bildern ein „zweiter Herd“ zu sehen sei, und ich irre stundenlang durch die Straßen, bis ich mich wieder beruhigt habe. Sterben kannst du nur einmal, sage ich mir, und das wird der erste Herd schon erledigen. Also wurscht. Es beeinflußt nur den Strahlengang.
Am 3. März kaufe ich mir am Alexanderplatz ein Notizbuch. Ich habe nie eins besessen, Dinge immer auf kleine Zettel, Bierdeckel, Fahrkarten notiert, wenn mir unterwegs etwas einfiel, Autor mit Notizbuch: schien mir immer eine Spur zu eitel für einen Behelfsschriftsteller wie mich. Jetzt ist der Wunsch danach übermächtig.
Ich trage als erstes meinen Namen und 50 Euro Finderlohn vorne ein, wenig später mache ich eine 1 davor: 150 Euro. Irgendwas in meinem Innern sagt mir: Ich darf das auf keinen Fall mehr verlieren.
Ich notiere Telefonnummern und Termine und Einkaufslisten. Dinge, die mir Spaß machen könnten. Daß ich die Kapitelanfänge im Zauberberg, die von der Zeit handeln, noch einmal lesen will. Den Polanski noch mal gucken, um mein Urteil zu überprüfen. Paracetamol und eine Tastatur. Ein Waffenschein. Meinem Nachbarn Geld für Luxuskopfhörer anbieten.
In einem Diagramm skizziere ich die Verhältnisse in meinem Kopf. Unter der Rubrik „Vorstellungen“ liste ich Bilder und Gedanken auf, die ich hilfreich gefunden habe im Kampf mit der Todesangst, und immer, wenn ich vor Panik nicht mehr denken kann, schaue ich jetzt in mein Büchlein und gehe ein paar Bilder durch. Meistens reichen zwei oder drei, um mich zu beruhigen, und die, die sich als besonders effektiv erweisen, versuche ich selten zu benutzen und mir für die größeren Krisen aufzusparen.
„Arbeit mit Passig“ steht dort zum Beispiel oder „Galiani-Balkon“. Ich stelle mir vor, neben Passig in der Küche zu sitzen und zu schreiben, ich stelle mir vor, im Sommer 2011 auf dem Balkon meines Verlags mit dem fertig geschriebenen und gedruckten Jugendroman zu stehen, oben der Abendhimmel, neben mir alle vom Verlag. Und Karen Duve.
Zwischen dem 3. und 6. März höre ich auf zu schlafen. Mein Hirn läuft auf Hochtouren. Ich schreibe den ganzen Tag, brauche keine Pause mehr und stelle fest, daß meine geringe Lebenserwartung sich durch das Nichtschlafen fast verdoppelt.
Normal habe ich so um die 300 Anschläge pro Minute. In diesen Stunden habe ich mindestens das Doppelte. Ich hacke alles in der Geschwindigkeit runter, in der ich es denke, und schicke es ohne Korrektur ab.
Gleichzeitig kommt es zu einer subjektiven Zeitausdehnung um den Faktor 5 bis 6. Ich teste das, indem ich immer, bevor ich auf die Uhr blicke, die Zeit schätze. Auch als ich die merkwürdige Diskrepanz lange genug beobachtet habe und bei meinen Schätzungen zu berücksichtigen versuche, bleibt es dabei: Ich tippe weiter um den Faktor 5 daneben. Subjektiv sind fünf Stunden vergangen, tatsächlich nur eine. Auch alle Fußwege verlängern sich um denselben Faktor, und ich brauche eine Weile, um zu begreifen, daß ich weder langsam bin noch in meiner Schusseligkeit Umwege gehe, sondern daß Weg und Zeit proportional sind: Meine ganze Welt dehnt sich aus.
Über E.M. Cioran meine ich, einmal gehört zu haben, daß er nicht schlafe. Ich habe den Eindruck, nun das gleiche Schicksal zu erleiden. Ich fühle mich großartig. Freunden und Bekannten gegenüber beschreibe ich meinen Zustand abwechselnd mit „Ich bin zwölf Jahre alt, und es ist der erste Tag der Sommerferien“ oder „Auf einer Skala von eins bis eine Million: eine Million.“