Vierzehn

28.2. 2011 11:30

Gewohnt schwerer Abschied vom Meer. Jede Nacht bei bei offenem Fenster gelegen, das Rauschen gehört, die Wellen gesehen. Jeden Morgen an der Wäscheleine gezogen, die aus Passigs Fenster hängt.

13.3. 2011 16:34

Mit C. draußen im Park in den ersten warmen Sonnenstrahlen. Weidenkätzchen, grüne Knospen, zwischendurch immer wieder am Rechner nachgeschaut, ob schon Kernschmelze in Fukushima. Die ungeheure und sympathische Gelassenheit der Japaner bremst irgendwie meine Empathie. Gewohnt an die Sakralarchitektur deutscher Atomkraftwerke mit ihren Kuppeln und Minaretten kann ich auch die kleinen japanischen Klötzchen, aus denen Rauchwölkchen puffen, in den ersten Tagen nicht ernst nehmen. Aber dann wird es doch langsam unheimlich.

Das ganze gegen die Natur und den Todesgedanken aufwendig aufgebaute Bollwerk der Zivilisation, der Technik, der Architektur und der angenehmen Dinge von einer riesigen Welle fortgeschwemmt zu sehen, ist nicht beunruhigend. So ist das eben. Aber eine der hochentwickeltsten Städte des Planeten bei ungünstigen Winden für immer unbewohnbar gemacht zu sehen, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Ich werde ganz trübsinnig. Ich versuche, keine Nachrichten zu gucken, aber dann gucke ich doch die ganze Zeit.

16.3. 2011 9:08

Psychiater Bandelow im Spiegel: „Es ist ein großer Irrtum zu glauben, jetzt müssten alle ganz schnell therapiert werden. Die Wissenschaft hält das inzwischen für kontraproduktiv. Es gibt Untersuchungen zum Zugunglück in Eschede im Jahr 1998, wo 101 Menschen ums Leben kamen. Damals wurden mehr als 600 Helfer psychologisch betreut. Später stellte sich heraus, dass die Therapierten häufiger ein Belastungssyndrom entwickelten als jene, die nicht in ärztlicher Behandlung waren. Es gibt mehrere Untersuchungen, die das belegen.“

Meine Rede seit 1971.

18.3. 2011 19:06

Mit einer Frau telefoniert, die seit drei Jahren ein Astrozytom hat und in der Charité operiert wurde. Daraufhin noch mal rumgegoogelt und eine Studie gefunden, die einen Zusammenhang zwischen Tumorvolumen und Überlebenszeit postuliert, der mich sofort in Panik geraten ließ. Den ganzen Nachmittag gegoogelt, bis ich die gegenteilige Studie gefunden hatte.

Anschließend mit Herrn T. telefoniert, der mir vor ziemlich genau einem Jahr zu Arbeit und Struktur riet. Ihm geht es gut, mittlerweile 14 Jahre ohne Rezidiv. Er ist jetzt 66 und vermutlich sowas wie der Weltrekordhalter im Glioblastom. Fast jeden Tag des letzten Jahres an ihn gedacht. Dankbar.

In einer skandinavischen Studie mit 1147 Patienten waren alle Patienten, die länger als 10 Jahre überlebten (0,5%), zum Zeitpunkt der Erstdiagnose und Therapieeinleitung jünger als 38 Jahre (Salford 1988).

Und ich muß jetzt dringend aufhören zu googeln.

20.3. 2011 23:07

Interessante Zeiten, wo eine drohende Kernschmelze in gleich mehreren Atomreaktoren nur noch auf Platz 3 der Nachrichten ist.

23.3. 2011 18:23

Fahrradtour am Wannsee lang. Den ganzen Tag gefahren, ohne große Gedanken. Richtig schön ist es nicht ohne Grün. In den Badebuchten die Hand ins Wasser gehalten und den Eindruck gehabt, man könnte schon.

28.3. 2011 9:40

Die betonartige Gleichgültigkeit, die sich um die letzten MRTs legte, ist mehr oder weniger ausgeblieben. Heiter, gelassen, gestern noch den ganzen Tag gearbeitet. Aber das Warten auf den Befund jetzt anstrengend. Der Wüstenroman biegt langsam auf die Zielgerade, aber die Zielgerade sind noch fast 300.000 Zeichen. Kann man vermutlich beliebig kürzen, da es nur noch darum geht, den Helden aus dem Buch zu schreiben.

Bilanz eines Jahres: Hirn-OP, zweimal Klapse, Strahlen, Temodal. 1 3/4 Romane, erster großer Urlaub, viele Freunde, viel geschwommen, kaum gelesen. Ein Jahr in der Hölle, aber auch ein tolles Jahr. Im Schnitt kaum glücklicher oder unglücklicher als vor der Diagnose, nur die Ausschläge nach beiden Seiten größer.

Insgesamt vielleicht sogar ein bißchen glücklicher als früher, weil ich so lebe, wie ich immer hätte leben sollen. Und es nie getan habe, außer vielleicht als Kind.

29.3. 2011 15:52

Befund nicht ganz klar. Gliöse Veränderungen, wie beim letzten Mal auch. Dr. Vier vermutet Narben, absterbendes Gewebe, auch weil der Patient so überaus stabil und beschwerdefrei wirkt, aber es könnte auch irgendwas aus einer Mischform Übriggebliebenes sein, Astrozytom zum Beispiel. Nächste Woche PET-CT.

29.3. 2011 23:00

Die Unsicherheit und die Beschäftigung mit dem, was kommen wird, führt, wie auch schon zuvor, zu leichter Hypomanie. Gedanken schnell und leicht, auch das Arbeiten geht wieder leichter. Irgendwas scheint da bei mir falsch verschaltet zu sein.

Mit dem Rad an der Spree entlang nach Hause. Sitze lächelnd auf den Bänken an der Kaiserin-Augusta-Allee, wo man über den Fluß schauen kann auf Industriegebäude in der fast schon sommerlichen Nachtluft. Das Dauerlächeln habe ich mir damals während der Strahlentherapie angewöhnt, um den Körper zu veranlassen, das zu Mimik und Muskeln entsprechende Gefühl zur Verfügung zu stellen. Was er auch tut.

4.4. 2011 23:40

Auf 3sat eine Serie zu den letzten Dingen, Nahtod-Erfahrungen, Kübler-Ross usw. Ganz interessant, betrifft mich aber nicht. Gerade diesen Nahtod-Erfahrungen haftet etwas Ekliges an. Ich weiß selbst, daß ich mich mit positivem Denken, mit Sport und Lächeln und Arbeiten über etwas Bodenloses hinwegtäusche, aber wenn ich auf den letzten Metern noch derart infantil werden sollte zu vergessen, daß es sich um Selbsttäuschung handelt, erschieße man mich bitte.

5.4. 2011 13:30

Fluorethyltyrosin, mit dem das PET-CT gemacht wird, ist ein radioaktiv markiertes Aminosäureanalogon. Deshalb zwei Tage kein Eiweiß und heute gar nichts mehr gegessen. Hauptsächliches Gefühl jetzt: Hunger.

Im Wartezimmer ein Mann mit Boxernase, der seiner Betreuerin erklärt, daß auf seinen Bildern nichts ist. Sie gibt ihm einen Umschlag mit Geld, und er verspricht, alles mit bestem Boxen zurückzuzahlen, er sei gut, er schaffe es. Sie bestätigt es. Im Regal zwei Spiegel-Titel zu Fukushima, ein Buch von Wieland Herzfelde und Gedichte von Georg Herwegh.

Nach einer Stunde Warten ein zweites PET-CT, ein spezieller Bereich soll noch mal genauer untersucht werden. Dann Befund: Nichts. Die roten Punkte, die vor einem Jahr kranzförmig um die Operationsstelle wucherten, sind verschwunden. In der Bäckerei nebenan auf die Donuts geheult.

5.4. 2011 18:36

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein
Ich will mein Leben tanzen
Ihr Lächeln, das ich nie vergessen werde
Ein Lachen, das nie verging
Die goldene Schaukel im Regenbogen
Wenn sie lachte, hatte ich Hoffnung
Einladung in den Himmel
Flieg mit den Vögeln
Mutti, ich hab‘ noch nicht Tschüß gesagt
Arbeit und Struktur

6.4. 2011 9:48

Seit gestern ein six figure author, schreibt Marcus.