Zweiundzwanzig

20.11. 2011 10:31

Der einfachste Weg zu gutem Stil: Sich vorher überlegen, was man sagen will. Dann sagt man es einfach, und wenn es einem dann zu einfach erscheint, kann das zwei Gründe haben. Erstens, die Sprache ist nicht aufgeladen genug von ihrem Gegenstand, oder der Gedanke ist so einfach, daß er einen selbst nicht interessiert. In diesem Fall löscht man ihn. Was oft schwierig ist, denn das glaubt der Laie ja meist nicht, daß ihn die eigenen Gedanken nicht interessieren. Im anderen Fall schraubt man etwas rum, ist sich aber bewußt, daß mit Syntaxverkomplizierung und Thesaurus noch kein Text gerettet wurde. Wobei einfach jetzt nicht schlicht bedeuten soll. Wir alle kennen hochkomplizierte, verschachtelte Texte, die großartig sind. Aber solange man nicht bewiesen hat, daß man einfach kann, kann man auch nicht kompliziert. So sinngemäß mein Deutschlehrer in der fünften Klasse.

Jahre, nachdem ich die Schule verlassen hatte, fand ich einmal ein Aufsatzheft wieder, in dem Herr Suck mir seitenlang Stilfehler angestrichen hatte, plus Erklärung, wie es besser ginge, Kommentar insgesamt länger als der Aufsatz. Aber die Vier in Deutsch machte es mir schwer, ihn ernstzunehmen, und ich entschied mich dafür, ihn für das zu halten, wofür ihn die meisten anderen auch hielten: Einen aus dem Weltkrieg mit leichtem Tremor und permanentem Kopfschmerz zurückgekehrten, etwas irren Liebhaber von Literatur mit ausschließlich letalem Ausgang, einen Mann mit einem Faible für Schach und Marschmusik, der zitternd den Mittelgang auf und ab rannte, unaufmerksame Schüler mit ruckartigen 180-Grad-Drehungen und gebrüllten Fragen aus ihrem Mittagsschlaf weckte, der mit Tafelkreide warf, in der Sexta Kleist durchnahm und von Stil sprach. Der einzige Lehrer in meiner ganzen Schulzeit, der von Stil sprach. Und auch eine Ahnung hatte, wovon er da sprach, wie das Aufsatzheft beweist. Hätte ich auf ihn gehört, ich hätte zehn Jahre meines Lebens gespart.

Er starb, bevor mein erstes Buch erschien. Hat mich sehr geschmerzt.

Im Fünftklässler damals nur ein Gemisch aus Furcht, Verachtung und dem nicht faßbaren Gedanken: Wie einer leben kann mit einem permanentem Kopfschmerz, ohne sich umzubringen. In seinem Unterricht herrschte abolute Stille, wie sonst nur noch bei Fleischhauer. Da war es genauso still, auch ohne Kreidewerfen. Falls er zufällig noch lebt und ebenso zufällig hier mitliest: von Hammurabi über Solon bis zur Schlacht bei Leuktra kann ich das alles noch im Schlaf.

Erste Aufgabe in der ersten Geschichtsstunde meines Lebens: Wenn ein Zentimeter auf einem Bandmaß einem Jahr entspricht, wie lang muß das Bandmaß sein, um die Dauer des Bestehens unseres Sonnensystems anzuzeigen? 45.000 Kilometer, mehr als einmal um die Erde.

Rechne aus: Die Länge der Strecke, die auf dem Bandmaß rot eingefärbt werden muß, um die Anwesenheit des Menschen auf diesem Planeten zu veranschaulichen? Zehn Kilometer. Die ersten Höhlenmalereien? Vor 300 Metern. Kreuzigung eines Mannes in Palästina? Zwanzig Meter. Dein eigenes Leben? Zehn Zentimeter.

Hätte mir damals einer gesagt, weitere 35 oder 36 kämen noch, was hätte ich getan? Hätte es mein Leben verändert? Die populäre, akademische, theologische und auch im Science Fiction gern und oft gestellte und immer wieder mit Nein beantwortete Frage, ob die Kenntnis des eigenen Todeszeitpunkts wünschenswert sei: Doch. Würde ich sagen. Doch, ist wünschenswert. Segensreich. Eine Belastung, aber eher ein Segen. Nicht für Kinder natürlich. Aber wenn machbar und mit Erreichen der Volljährigkeit: Besuch im Genlabor, dann ungefähr ausrechnen, dann planen, dann leben. Könnte man sich viel Quatsch ersparen.

20.11. 2011 16:00

Mit C., Lars und Passig in Tyrannosaur, reiner Gewaltfilm, durchgeheult. Entweder stimmt mit mir was nicht mehr oder mit dem Kino, ich sehe nur noch gute Filme.

25.11. 2011 12:21

Letzte Bestrahlung. Die dreiteilige Maske wird mir in einem Plastiktütchen mitgegeben, damit bei Bedarf weitergestrahlt werden kann.

Abschlußgespräch mit dem Arzt: Kein Schwindel? Keine Schmerzen, keine Nebenwirkungen? Nichts außer leichter Müdigkeit? Bei drei Antiepileptika, auf deren Beipackzetteln jeweils Müdigkeit an erster Stelle steht, vielleicht kein Wunder.

Und dann noch mal die Statistik, bitte?

Ja, wie gesagt, da zeigt das Bild so eine Linie, die langsam nach unten geht und dann immer weiter abwärts –

Ich meine, in meinem Fall jetzt speziell?

Nach fünf oder sechs Jahren Erfahrung mit dieser Methode, und dann machen Sie ja jetzt mit dem Temodal weiter, und bei Ihrem Alter und Allgemeinzustand, zehn bis zwölf Monate, würde ich sagen. In etwa.

Bis zum Tod oder bis zum Rezidiv?

Bis zum Rezidiv.

Das ist zuviel. Wenn man gern Gefühle hat, gegen deren Ausagiertwerden man nichts unternehmen kann, ist Hirnkrebs eine tolle Sache. Den Arzt beeindruckt mein Herumgespringe wenig, der hat vermutlich schon anderes gesehen. Ich selbst hatte mir drei bis vier Monate zusammengegoogelt. Da könnte ich ja noch zwei Bücher schreiben, wenn ich wollte. Komischerweise will ich gar nicht mehr. Ich habe fast zwanzig Monate durchgearbeitet, weil ich mußte. Jetzt muß ich nicht mehr. Also schreibe ich nicht mehr. Schon praktisch seit dem vierten November nicht mehr.

26.11. 2011 18:00

Carnage, 8 Punkte. Ich mag das, wenn sie im Film so reden. Die Virtuosität, mit der eine friedliche soziale Situation unter vernünftigen, intelligenten Erwachsenen im Dialog über die Klippe geschoben wird, die technische Schwierigkeit, das glaubhaft zu machen. Hier und da holpert es, aber wie auch nicht, es wird ja das im Grunde Unmögliche versucht. Allein Waltz kann man alles in den Mund legen. Dieses sensationell schmierig-unschmierige Lächeln, während sich Winslet und Foster ohne Armefuchteln und Schreien längst nicht mehr zu helfen wissen. Woran erinnert das nochmal?

Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Mit fünfzehn oder sechzehn zum ersten Mal gesehen, prägender Film, wie man so sagt, unglaublicher Lichtblick damals, erster Ausblick auf eine von mir immer herbeigesehnte Zukunft, die Dominanz des Gedankens, die Geschwindigkeit des Denkens in einer Gesellschaft hemmungsloser Zyniker, vom Ironieapparat immer sofort wieder kassierte Sentiments und der gerade dadurch umso sichtbarer werdende, lächerliche und vielleicht auch wieder gar nicht so lächerliche Wille zum Drama, zum Pathos, raus aus der Konvention mit aller Gewalt, raus aus dem Leben, das ich bis dahin als einziges kennenzulernen Gelegenheit gehabt hatte, ein Astronom, der sein Teleskop zum ersten Mal in den Sternenhimmel richtet.

Film vor ein paar Jahren wiedergesehen, leider schlecht gealtert. Gegen das Gewollte und Unnatürliche der Eskalation können auch Taylor und Burton nicht anspielen – dachte ich – schrieb ich gerade. Zur Kontrolle einige Schnipsel auf Youtube nachgeguckt – die Taylor, mein Gott. Diese Stimme. Werd ich mir nochmal angucken müssen.

27.11. 2011 13:00

Sonnigster November aller Zeiten. Baden mit Mütze. Wie schon die letzten Male der Schmerz im Nacken, der mich lähmt und nach einigen Metern umkehren läßt. Keine Ahnung, was das ist. Dem Restkörper macht die Temperatur nichts aus. Im Wasser stehen und hin und wieder untertauchen aber auch ganz schön.

29.11. 2011 23: 49

Mit Kopfschmerzen erwacht, trotz Kaltduschen nicht aufgewacht, Tag im Bett verbracht, nichts gegessen. Zeitverzögerte Folgen der Strahlen vielleicht.

2.12. 2011 20:00

Zwei Tore geschossen, eins mit der Hacke. Trotzdem unglücklich, sehe nur noch einen Korridor, Spielbewegungen gar nicht, zweimal mit Daniel zusammengeknallt. Auf dem dreihundert Meter langen Weg von der Halle bis zur Kneipe verlaufen.

5.12. 2011 18:00

Thermen im Europa-Center, C., Julia, Holm, Ewers.

6.12. 2011 16:30

Und was machen Sie jetzt? fragt Dr. Vier, dem ich Sand mitgebracht habe. Nichts. Was ich machen wollte, habe ich gemacht. Zwei Romane fertig, zwei weitere Romanruinen bleiben liegen. Ein Buch mehr oder weniger. Und die hoffnungsfroh mitgeteilte Zehnmonatsprognose des Strahlentherapeuten wird vom Gesichtsausdruck Dr. Viers auch nicht bestätigt. Könnte länger sein. Könnte auch deutlich kürzer sein.

Okay.

6.12. 2011 19:45

Jane Eyre von Fukunaga. Gut, solide, aber meine Lieblingsszene fehlt, die niedrigste Instinkte befriedigende ausführliche Erhöhung Jane Eyres auf Kosten Miss Ingrams.

12.12. 2011 22:11

250 mg Temodal, sieben Tage, dann sieben Tage frei und so weiter bis zum Ende. Oder bis das Knochenmark den Geist aufgibt, was vermutlich aufs selbe hinauskommt.

16.12. 2011 13:14

Es schneit.

17.12. 2011 14:26

In meinen Mails fehlt hier und da das Wort „ich“, auch in Mails von anderen übersehe ich die drei fatalen Buchstaben immer mal. Keine Ahnung, was mein Gehirn da weiter rausmeldet. Ich hab’s ja begriffen.

Test, eins, zwei, drei, ich.

17.12. 2011 19:45

Mit E. in Submarine. Immer noch die gleiche wie vor zehn Jahren. Kennt Depersonalisation als Folge schwerer Depressionen.

19.12. 2011 12:49

Der nächste Schwachkopf in Nordkorea. Filmempfehlung: Team America.

Frisium 5 1-0-2
Keppra 1500 1-0-1
Lamotrigin 50 1-0-1
Temozolomid 250 0-0-1

Die Halluzinationen im Sichtfeldausfall haben sich zurückgebildet, was nicht nur Vorteile hat. Ich laufe wieder vermehrt in Gegenstände, wo ich zuvor den Gespenstern ausgewichen bin.