Neunundzwanzig

25.6. 2012 13:59

Mosebach endgültig verrückt geworden.

Rätselhafterweise wurde ich wegen des von Mosebach so vehement geforderten, seit Zeiten des Deutschen Reichs allerdings immer im Strafgesetzbuch existiert habenden Blasphemieparagraphen sogar mal angezeigt. Langweilige Geschichte, Kurzversion: Im Auftrag eines Satiremagazins Zeichnungen zum Kruzifixurteil gemacht, Witz mau, ich brauchte das Geld. Dann Behörden unfähig, den V.i.S.d.P. zu ermitteln, also Zeichner und Layouter geladen, deren Namen zufällig drunterstanden. Ich verteidigte mich mit den Worten: „Ich habe doch nur meine Pflicht getan“, das Verfahren wurde niedergeschlagen. Amtsgericht Tiergarten, 1995.

Irgendwas ist da fundamental schief gelaufen in den letzten zwei Jahrzehnten, wenn die Sache der Aufklärung jetzt schon in der Frankfurter Rundschau mit Füßen getreten wird.

29.6. 2012 21:00

Morgens von der Waage seitwärts in den Umzugskarton gekippt, neben den Stuhl gesetzt. Linke Hand findet ihren Platz auf der Tastatur nicht. Pappschablone auf den Rechner geklebt, um dem Handballen Halt zu geben, vergeblich. Dann Hand am Tisch festgeklebt, ohne daß es hilft. Linker Fuß rutscht vom Fahrradpedal. Ausflug zum Tegeler See. C. verbietet Rausschwimmen. Gewitter.

30.6. 2012 16:30

Passanten am Nordufer gefragt, ob sie das auch röchen, ein entsetzlicher Gestank die ganze Straße runter. Nein, rochen sie nicht … obwohl, manchmal rieche es hier schon ein bißchen … hm … nach Fäkalien.

2.7. 2012 15:45

Auf dem Boden sitzend versucht, meine Socken anzuziehen. Die linke Hand hängt in der Luft, die rechte weiß nicht, wo der linke Fuß ist. Sehen kann ich ihn auch nicht, schließlich finde ich ihn unter meinem Schenkel.

3.7. 2012 13:50

MRT vorverlegt, Besuch C.

3.7 2012. 19:29

Links jetzt, als ob jemand die Nervenstränge büschelweise aus den Buchsen zieht.

4.7. 2012 7:30

Befund wie erwartet, Rezidiv. Ödem, Dexamethason. Notaufnahme in der Neurochirurgie im Virchow, freundlicher Empfang, alte Bekannte.

Konferenz: Tumor näher am Balken, aber operabel.

Freue mich auf die OP, Hauptsache Entscheidung.

6.7. 2012 18:30

OP für sieben Uhr eingetaktet, kein Beruhigungsmittel, lieber wach, vier Stunden gewartet, dann sechs Stunden operiert. „Ist diese Scheißrealität immer noch da?“ wollte ich eigentlich beim Erwachen zu C. sagen, sage aber nur, daß ich es sagen wollte. C. gibt mir Wasser. Ich sei halbseitig gelähmt, hat man ihr mitgeteilt, und der Patient liege aufgedeckt, mahnt die Ärztin, er möge sich bedecken (Penis). Der Patient hat allerdings gerade andere Probleme und macht neurologische Tests zur Funkion der linken Seite: Kraft da, Automatismen eingeschränkt, Zustand wie vor der OP, keine Lähmung.

Vom Aufwachraum zur Intensiv. Gewitterschwüle, ich rotiere die Nacht in schweißnassen Laken. Schweiß und Pisse, wie sich am Morgen herausstellt, der Katheter ist ausgelaufen.

7.7. 2012 11:00

Kontroll-MRT okay, aber das die Ausfälle verursachende Ödem möglicherweise durch krebsdurchsetztes Narbengewebe hinter dem entfernten Rezidiv verursacht, an das nicht näher heranzukommen ist.

7.7. 2012 18:30

C. wäscht mich. Erste Schreibversuche.

7.7. 2012 19:20

Kaum beherrschbares Down angesichts der Tatsache, daß ich mit links den Strohhalm nicht mehr in den Mund stecken kann, und beim Folgegedanken, bei Fortschreiten des Kontrollverlusts wahrscheinlich nicht mehr imstande zu sein –

Bitte C. am Handy, den ohnehin im Anmarsch befindlichen Cornelius zu bitten, noch schneller zu mir zu eilen. Er kommt, sofort Entspannung. Unterhaltung über Mosebach, Nina Hoss, Barbara, Yella, Petzold, Lentz, Villa Lysis, George, die Karlauf-Biographie, die so gut sein soll, das Forum, Klagenfurt, Sascha, Passig und ihr neues Buch, das allen Ernstes vom Internet handelt.

8.7. 2012 9:11

Weiter schwül, ganze Nacht geschwitzt und herumgewälzt, dazu im Halbschlaf unablässig Cornelius‘ Stimme in meinem Kopf, die mein Erleben in der bekannten Art noch einmal für mich zusammenfaßt und verdoppelt – alles naß hier, aha, linke Seite komplett naß, richtig naß, heißt unignorierbar, also Körper besser mal umdrehen, wobei auch gefährlich, gibt dann Probleme, weil später andere Seite naß, also vielleicht nicht zu früh drehen, am besten immer eine trockene Seite für Notfälle, und dabei gleich noch mal die Decke mit links nach rechts rübergezogen, quasi Funktionsprüfung, muß beübt werden, geht doch, das geht doch gut, das üben wir doch gleich nochmal, sagt Cornelius, und so Stunden schlaflos bis zum Morgen. Daß es ausgerechnet Cornelius‘ Stimme ist, wundert mich nicht, aber warum es mir nicht gelingt, auf meine eigene gewöhnlich alles halblaut mitredende Selbstgesprächsstimme zurück umzustellen, weiß ich nicht.

9.7. 2012 14:08

Besuch Julia.

9.7. 2012 18:00

Mit der Study Nurse Gespräch über Weiterbehandlung. Antrag bei der AOK auf das in Deutschland noch nicht zugelassene Avastin, dazu Irinotecan, danach hebt das Wort austherapiert das krause Haupt. Manche hält Avastin ein paar Wochen oder Monate stabil, manche ein Jahr, sogar zwei hat man hier schon erzielt. Dauerübelkeit hauptsächlich durch Irinotecan, kann bei Bedarf abgesetzt werden, spar ich mir dann, nicht mein Leben, definitiv nicht mein Leben.

Der aktuelle Champion in meiner Gewichtsklasse hat es hier auf vier Hirn-OPs gebracht.

10.7. 2012 17:05

Spatzenfüttertag vor der Krankenhauscaféteria. Die ungebremste Freude im Spatzenhirn und im die Spatzen beobachtenden Menschenhirn, das die taxonomische Grenze zwischen den von verwandten Anwandlungen vergleichbar aufgeregt wirkenden Arten am Ende eines langen Krankenhaustages nicht mehr klar erkennen kann und in romantischer Unordnung zu lassen sich geneigt fühlt.

Neben uns ein sehr tumbes, frisch am Kopf operiertes und möglicherweise behindertes Kind, das die von C. gereichten Krümel schwerfällig auf das Geflatter zu seinen Füßen schmeißt.

Die kreischenden Vögel, das Kind, die Bäume, die in ihren Rollstühlen zum Rauchen rausgeschobenen Greisinnen, die Schwangeren, der tote Stein – wo feuern die Spiegelneuronen und wie stark? Schiebe den Regler auf eine Zahl zwischen 1 und 5.

C. 5
Spatzen 5
Schwangere 4
Greisinnen 2
Kind 1
Bäume 0

Stein etwa Nullkommafünf wegen des sich in der Form abbildenden und auf den Terrassenbenutzer klar und heute positiv einwirkenden Bewußtseins des Architekten.

13.7. 2012 12:33

Gestern Entlassung, meine Eltern überschwemmen mich mit Johannisbeeren.

14.7. 2012 9:43

Man kann nicht leben ohne Hoffnung, schrieb ich hier vor einiger Zeit, ich habe mich geirrt. Es macht nur nicht so viel Spaß. Hauptsächlich in den Knochen steckengeblieben das Erlebnis, nicht mehr tippen zu können. Sprachsoftware fürs nächste Mal bestellt.

Jetzt Blick über den Kanal, die Schiffe, die Brücken und die Baustellenkräne am regenverschleierten Berliner Horizont. Stille und Frieden. Und Arbeit.

14.7. 2012 23:22

Musik höre ich ja epilepsiebedingt schon lange nicht mehr, Musik fast immer falsch, fast jede Musik falsch. Richtig nur: Bach. Bach geht immer. Ging immer, war immer richtig. Hirnrichtige Strukturen, ahnte man ja schon lange. Auf Youtube über Gould kommend jetzt BRAHMS Piano Concerto no.1 in D minor. Geht auch.

Sie sind Redakteur einer Musikzeitschrift und wollen wissen, ob das Geräusch, das Sie berufsbedingt gerade hören, richtig oder falsch ist? Wenden Sie sich vertrauensvoll an Dr. epi. Herrndorf.

17.7. 2012 13:27

In der Praxis klagt eine alte Frau zur auf moderate Lautstärke gedimmten Wartezimmermusik. Sie jammert zu Layla, stöhnt zu Downtown, sie weint und winselt zu Lady in Black, Lambada, Nachrichten und Werbung.

Und weiter mit Musik.

Eine Sprechstundenhilfe kommt und erklärt, daß es mit Jammern auch nicht schneller geht, und das Jammern wird leiser und verstummt. Derweil haben die Kumuluswolken vor dem im neunten Stock befindlichen Panoramafenster der onkologischen Praxis noch einmal die massiven, schwerelosen und strahlenden Lichtblöcke aufgetürmt, wie sie an einem Tag vor genau 350 Jahren auch schon einmal über den Häusern und Kirchen der Stadt Delft zu sehen waren und bezeugt wurden durch Johannes Vermeer.

Vielleicht auch kein Rezidiv, sagt Dr. Vier, kann man auf den Bildern nicht sehen, was man sieht, ist die Raumforderung. Kann aber auch eine Einblutung gewesen sein, bei dem Gemüse in Ihrem Kopf geht das leicht, da platzt ein Äderchen, einfach so oder durch einen Schlag auf den Kopf – aber ich habe doch einen Knockout gehabt beim Fußball? Ja, sehen Sie, und den histologischen Befund kennen Sie auch, nicht. Keine Glioblastomzellen. Das bedeutet nicht viel, ja, ich weiß, was das Krankenhaus sagt, sieht man öfter bei solchen OPs, Narbengewebe, frische und ältere Einblutungen, Strahlenschaden, Leukenzephalopathie, das ganze Geschmadder – nur ob die Ursache für das Ödem ein Rezidiv war oder nicht, wissen wir nicht. Können wir nicht wissen, das zeigt das Bild nicht. Und sonst geht’s Ihnen gut? Neurologische Defizite weg, Dexamethason ausgeschlichen, Resektionshöhle frisch durchgefeudelt? Das ist doch erfreulich, wir kommen zum Avastin.

Schrankenstörung mittlerweile Fünfkommadrei, nein, Fünfkommavier Zentimeter, im Vergleich deutlich progredient.