Zweiunddreißig
23.9. 2012 15:25
Baden im von Angelika Maisch mit einer Flasche Lourdes-Wasser komplett durchgesegneten See. Fische treiben kieloben, Hirntumore verschwinden, durch Herbstlaub scheint die Sonne.
24.9. 2012 9:24
Lektüre: Werther. Auf dem Titelblatt steht Oktober 1985, Februar 1996 und – September 2012.
1985 war ich Zivildienstleistender und lag im Krankenhaus Barmbek, weil nach einer mißglückten Mandeloperation und anschließendem CT eine ringförmige Struktur in meinem Hirn sichtbar geworden war. Damals sagte man noch Tumor, nicht Raumforderung. Zahlreiche Untersuchungen folgten.
Während ich auf der Neurologie lag, wurden zwei Leute in schwarzen Kisten rausgefahren. Ein Mädchen öffnete sich erfolglos die Pulsadern. Mein Zimmergenosse hatte einen IQ von 75. Nachts spielten wir auf der Station Ben Hur, den gelbgestrichenen Gang entlang und um die Säulen herum und zurück, mangels Pferdewagen in Rollstühlen.
Der Arzt stellte Fragen wie: Wieviele Selbstmörder hatten Sie in der Familie? Und ich mußte nachzählen. Es wurde festgestellt, daß ich beim Gehen auf der Stelle mit geschlossenen Augen den rechten Arm etwas mehr bewegte als den linken. Meine Freundin kam zu Besuch und weinte, ich mußte sie trösten. Ich mußte meine Eltern und meine Großmutter trösten. Das war anstrengend.
Sonst gefiel es mir gut auf der Station. Ich las viel. Ich hatte Liebeskummer und wollte sowieso sterben, da erwischte Goethe mich richtig.
Schließlich schickte man mich in den ersten Kernspintomographen Hamburgs. Ich öffnete die Aufnahmen im Taxi und konnte nichts entdecken. Die ringförmige Struktur war, wie sich herausstellte, die Folge eines fehlerhaften ersten CT gewesen. Um das zu bemerken, hatte das Barmbeker Krankenhaus anderthalb Monate gebraucht.
Bei der zweiten Lektüre zehn Jahre später hatte der Werther nachgelassen, der Ossian-Quatsch in der zweiten Hälfte verdarb mir auch die erste. Nun killt es mich.
Am Anfang, wo er gerade angekommen ist in seinem lieblichen Tal – habe ich das früher überhaupt gelesen? Jetzt liege ich im Gras und spüre ich jeden Halm.
30.9. 2012 16:00
Baden im schon kalten See, zwanzig Minuten schaffe ich. Der vom letzten Winter bekannte Schmerz zwischen den Schulterblättern. Viele Freunde anwesend, viele Stimmen, ich halte mich fern.
3.10. 2012 21:55
Sehr epileptischer Tag. Jedes Geräusch hallt als Wort und Brei aus Silben wider in meinem Hirn, das vergeblich den Sinn darin enträtseln will. Arbeit unmöglich.
6.10. 2012 15:40
Sturm und Wolkenbruch. Ich laufe in meiner Wohnung herum, um der Reihe nach durch alle Fenster zu sehen und mich zu freuen.
9.10. 2012 10:41
Die Spatzensituation ist nicht optimal. In der Frühe schon rotten die Vögel sich auf der Terrasse zusammen, picken in meinen Frühstückskrümeln aber nur lustlos rum. Sonnenblumenkernbrot geht so, Brötchen kaum, Schwarzbrot gar nicht. Aus sympathetischen Gründen hatte ich eine Weile angenommen, was mir schmeckt, müsse auch ihnen schmecken. Aber um die zerbröselten Pfeffernüsse hopsen sie nur einäugig herum. Mein Supermarkt führt kein Vogelfutter. Fünf Kilo auf Amazon bestellt.
11.10. 2012 13:36
Halsschmerzen, extreme Schlappheit und unkontrollierbarer Putzzwang, keine gute Kombination. Von unter der Bettdecke heraus erblickt der Proband die Andeutung einer Staubschicht auf dem Laminat im Flur seiner Wohnung. Aufstehen? Liegenbleiben? Wohnung komplett durchsaugen? Die Neurose siegt.
12.10. 2012 8:28
Sehr geehrter Herr Herrndorf, ein Kollege heilte [unleserlich] Neoplasmen mit folgender Diät:
1. Darmreinigung mit Movieprep (wie vor der Darmspiegelung).
2. So lange Sie es aushalten: Nur schwarzer Kaffee ohne Zucker und Wasser mit Apfelessig und alle 2 Stunden frisch gepressten Gemüsesaft von Biogemüse.
3. Gegen den Hunger: gekochte Kartoffeln.
Wenn Sie diese Therapie interessiert und Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich bitte an, oder schreiben Sie mir. Biopsie u. / o. OP sind beim Glioblastom absolut tabu. Entstehung häufig im Kindesalter durch Kopfverletzung.
Schreibt Dr. H. G. Fritz, Kieferorthopäde aus Bietigheim-Bissingen. Nachdem ich mit exzessiven Beschimpfungsorgien die Zahl briefeschreibender Esoteriker halbieren konnte, melden sich nun wieder vermehrt Ärzte zu Wort.
14.10. 2012 11:30
Unter dem großen Fenster, das die Welt am meisten zeigt, wie sie ist, also wie sie sein soll, sitze ich nur noch so da. Zum Lesen sind die Augen zu zugeschwollen, zum Schreiben auch.
16.10. 2012 8:31
Traum: Ich fahre zu einem Treffen mit Passig die Friedrichstraße runter und überlege mir eine Reihe von Wörtern, bei denen sie sagen soll, wo sie sie zum ersten Mal gehört hat (was sie bekanntlich kann), aber ich kann mir die Worte nicht merken, und ich habe kein Notizbuch dabei.
Immer wieder erwache ich, um mich nach dem Kugelschreiber neben meinem Bett umzudrehen, er ist nicht da. Da kommt Friederike, die neuerdings in der Anstalt arbeitet, mit einer Mappe voller Behindertenzeichnungen angeradelt. Der Wind reißt ihr die Mappe aus der Hand. Die Zeichnungen wirbeln über die Weidendammer Brücke davon, ich kriege eine zu fassen und schreibe auf die Rückseite:
morganatische Ehe
Hapaxlegomenon
Behuss
Prosopagnosie
Diaphanie
Rist
Mit Behuss, stellt sich nach dem Erwachen heraus, war Buhurt gemeint.
17.10. 2012 13:21
Zweiter Zyklus wegen schlechter Blutwerte (Leukozyten) verschoben. Die Hälfte der Patienten im Infusionszimmer sieht aus wie Seniorenheim, die andere: tot.