Siebenundzwanzig

23.4. 2012 12:00

Mietvertrag unterschrieben für eine Wohnung, die ich noch nicht gesehen habe.

24.4. 2012 19:00

Flug nach Agadir, Fahrt nach Essaouira. Als wir das Auto vor der Stadtmauer parken, bin ich sicher, herzukommen sei ein Fehler gewesen. Die nächtliche Ankunft am von Flutlicht zugestrahlten Strand lange nicht so magisch wie beim letzten Mal. Dunst und Nebel, sagt Per, beim letzten Mal war Dunst und Nebel. Ach ja.

Bewohne das gleiche Zimmer wie vor zwei Jahren, es ist schön und fremd, und von Müdigkeit, Aufregung, Chemo und Reisestreß zerschossen sacke ich ins Bett.

25.4. 2012 7:00

Bei Sonnenaufgang durch fast leere, stinkende Gassen zum Meer. Zwei Straßenköter, die um mich herumspringen. Das Wasser ist nicht kalt. In sehr weiter Ferne ein paar Fußballspieler.

25.4. 2012 12:00

Der Spaziergang durch die Altstadt ist erst herrlich, dann stressig, dann schön, dann ermüdend. Ich denke an meine neue Wohnung und wäre nun vielleicht doch lieber in Berlin.

25.4. 2012 18:42

Nach Thor Kunkel entlarvt auch Lottmann die Hirnsache im taz-Blog als Marketingcoup.

26.4. 2012 11:46

Drei oder vier asynchrone Muezzins. Auf der Hoteldachterrasse in praller Sonne sitzend und arbeitend, überrascht mich die Meldung vom Tod einer Brieffreundin aus Freiburg. Ihre Erstdiagnose war im Dezember 2010, nach jeder von drei Operationen wuchs das Glioblastom sofort weiter. Im Gegensatz zu mir machte sie sich Hoffnungen, klammerte sich an neue Mittel und suchte in Studien reinzukommen. Vor zwei Monaten meldete sie: Tamoxifen scheint zu wirken, neuer Herd löst sich auf, alte, bestrahlte Stelle unverändert. Vor fünf Tagen starb sie.

Eine Freundin von ihr mailt, sie sei zuletzt rund um die Uhr betreut worden, selbst zum Schreiben zu schwach. Der Versuch, sie mit den Mitteln der Palliativmedizin in einen stabilen Zustand zu bringen, hatte wenig Erfolg. Auch im Hospiz kam sie nicht zur Ruhe und schrie die Nacht durch vor Angst. Die offensichtliche Kraft, die zum Schreien vorhanden war, habe, so die Freundin, im krassen Gegensatz zum geschwächten Gesamtzustand gestanden. Die Ärzte konnten sie nur beruhigen, indem sie sie komplett sedierten. Sie hat die durchschnittliche Lebenserwartung von siebzehn Monaten knapp verfehlt, in der ungünstigen MGMT–Gruppe gehörte sie zu den glücklicheren 15 Prozent.

Unten in der Hotellobby finde ich Per und Lars, an denen ich mich festhalten kann zum Glück.

26.4. 2012 18:46

Hinter den anderen her durch die Medina auf der Suche nach dem nördlichen Strand und der Fabrik, in der Per seine Schatullen herstellen läßt. Das Gewimmel der vor sich hin krepelnden Menschen, die aus Müll und Abwasser gemachten Straßen, der Gestank, das Geschrei, der Schmutz alles Lebendigen lassen mich umkehren. Sofort verlaufe ich mich. Zweimal renne ich die auf ganzer Länge verstopfte Hauptstraße hoch und runter, bis ich endlich die mit einem Stadttor markierte Abzweigung zum Hotel gefunden habe.

Dann in Badehose Spaziergang zum leer und befreiend vorgestellten, aber vermüllten und von Quads zerfetzten südlichen Strand, der vor zwei Jahren noch großartig schön gewesen war. Ich gehe so weit ich kann und über den Fluß und zurück, um wenigstens erschöpft zu sein am Abend. Ich versuche mir vorzustellen, was es bedeutet, eine Nacht durchzuschreien vor Angst. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es Empathie ist oder Selbstmitleid, ich denke nicht nach.

Auf dem Weg zum Italiener verliere ich erneut die Orientierung und bin froh, als ich endlich im Bett liege und der Muezzin zum hundertsten Gebet des Tages ruft. Ein großer, mächtiger, tödlicher Gott, der so anhaltend bebetet werden muß.

27.4. 2012 09:09

Von frühester Kindheit an hatte ich die Vorstellung, nicht von dieser Welt zu sein. Ich sah aus und redete wie die Erdlinge, kam aber in Wirklichkeit von der Sonne. Das erklärte das seltsame Anderssein der anderen. Aus mir selbst rätselhaften Gründen durfte ich mit niemandem über meine Herkunft sprechen. Meine Mission war unklar. Ich hielt es für eine gute Idee, erstmal alles zu beobachten. Ein einziges Mal offenbarte ich mein Geheimnis meinem besten Freund, und zwar, das weiß ich noch, als wir bei meiner Großmutter vor dem Goldfischteich standen. Ich erklärte ihm, daß ich oft spielte, ich käme von der Sonne. In Wahrheit hoffte ich, auch er würde sich als Außerirdischer zu erkennen geben. Die Vorstellung verschwand, als ich 8 oder 9 war, und ich weiß noch, daß mich ihr Verschwinden leer zurückließ.

Einzig mir nachvollziehbare religiöse Handlung immer gewesen: Der in allen frühen Kulturen praktizierte Kult um die frühmorgendliche Erwartung und Verehrung der Sonne. Aber alles, was danach kam und das Bild der Sonne ersetzte durch andere Bilder und die Bilder durch Abstracta und den Gott fröhlicher Gegenwart durch jenseitige Finsternis –

1975 im Ägyptischen Nationalmuseum in Kairo gesehen: Echnaton samt Gattin und den in den Kalkstein gekratzten bestirnten Himmel über ihnen. Für den Zehnjährigen wenig beeindruckend; die effeminierte, leicht fernöstlich wirkende Statue des ersten Monotheisten hingegen schon.

27.4. 2012 14:08

Für Marrakesch bin ich zu unruhig, Per und die anderen machen sich allein auf den Weg. Ich bleibe im Hotel, lese Agota Kristof, sofort sind alle Schmerzen weg.

30.4. 2012 15:00

Am Strand von Sidi Kaouki den eigentlichen Grund der Reise in Augenschein genommen, angegangen und gewissenhaft erledigt, Baden in tosender Brandung. Toll. Dann deprimierendes Wettrennen am Strand: Letzter. Dabei fühle ich mich wie mit zwanzig. Bemerkenswert, wie Lars den Strand niederstampft wie Ailton – wirklich genau wie Ailton. Er ist allerdings auch verliebt.

Während ich wenigstens in der Disziplin des Sandalenweitwurfs das Feld beherrsche, führt Per in dem sonst leeren Strandcafé geschäftliche Verhandlungen mit dem zwielichtigeren Teil des Personals eines Robert-Rodriguez-Films.

1.5. 2012 10:30

Fahrt zurück über die Küstenstraße nach Agadir, kurzer Halt, Gruppenfoto und Abschied vom Atlantik.

1.5. 2012 22:30

Zoll- und Paßkontrolle Schönefeld. Menschenmassen, lange Schlangen, die Wände schwanken auf mich zu. Per hält mich fest, sonst fiele ich. Körper, Seele, weiß nicht. Sollen wir einen Arzt rufen? Die Paßbeamtin. – Nein, nein, nur ein epileptischer Anfall.

3.5. 2012 19:12

Traum: An meiner Panzerung erkenne ich, daß ich ein Soldat bin. Ich bin Hannibal. Ich habe ein Schwert, einen Schild und eine Waffe, deren Sinn sich mir nicht auf Anhieb erschließt, ein großer, gepunzter Messingteller, auf dem eine an einer goldenen Schnur befestigte Quaste sanft herumgeschleudert wird, um ein leises Klingeln zu erzeugen. Ich komme zu dem Ergebnis, daß diese Waffe einen aus dem toten Winkel von links unten gegen mich herauf geführten Angriff meines Gegners verhindern oder frühzeitig anzeigen soll. Mit Schild und Schwert zusammen kann ich den Teller aber nicht bedienen, ich brauchte drei Arme. Hilflos suche ich mein Heil im Angriff und stürze mit allen Waffen schreiend das Treppenhaus hinunter, wohlwissend, daß dies in der Literatur als ungewöhnliche und wenig erfolgversprechende Taktik gilt. Ich hoffe, so wenigstens das Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben. Tatsächlich gelingt es mir, meinen Gegner im Sprung mit meinem Körper umzureißen und ihm mein Schwert, das sich in einen Brieföffner verwandelt hat, durch die hölzerne Treppenstufe (Berliner Mietshaus) von unten in den Hals zu stoßen. Mit einem kraftvollen Ruck könnte ich nun Holz und Hals durchtrennen. Nennen wir es ein Patt, schlage ich vor, und Publius Cornelius Scipio Africanus ist einverstanden, obwohl er so gut wie ich weiß, daß dafür die Geschichte geändert werden müßte, die doch längst vergangen ist, was so wenig regelkonform ist wie überhaupt ein Unentschieden im Kampf. Laßt mich leben, sage ich, und wir lassen Rom in Frieden. Mit der Hand über die Ähren eines Weizenfeldes streichend gehe ich davon, dazu erklingt die Schlußmusik aus Gladiator, damit es auch der letzte begreift. Aber ich habe nichts dagegen. Es gefällt mir sogar. Es ist schöne Musik.

5.5. 2012 17:24

Leukenzephalopathie noch mal gegoogelt, Tag versaut, arbeitsunfähig. Zum ersten Mal die neue Wohnung betreten. Larry, der den Umzug koordiniert, erklärt, daß man von der Dachterrasse aus die ganze Stadt beherrschen könne, und wir überlegen, welche Ziele man mit einer RPG-7 als erstes abräumen würde. Der Fernsehturm, der sich hinter einem Schornstein versteckt, müßte freigespielt werden. Larry nimmt den großen grauen Kasten („weil er so groß ist“), ich den Schinkeldom.

6.5. 2012 13:30

„Während ich in den vergangenen Wochen die zehn meistverkauften Romane der Deutschen las“, erklärt Denis Scheck mit immer wieder fröhlich auf und ab segelnden Augenbrauen, deren Bewegungen die Kamera mit waagerechtem Geschwenke anhaltend zu kontrastieren oder zu negieren versucht – und kommt dann übergangslos auf Grass‘ neuestes Israelgenörgel zu sprechen, das von aller Welt falsch gelesen worden sei. Die Welt hat schlecht, die Welt hat miserabel gelesen, er habe den Eindruck, Zeuge der schwärzesten Stunde der deutschen Literaturkritik während seiner bisherigen Lebenszeit geworden zu sein. Wörtlich so.

Dann bespricht er dreizehn Bücher, von denen er die Hälfte über eine Rollenbahn in eine Kehrrichttonne stößt, Gesamtseitenzahl der besprochenen Romane: 6039.

7.5. 2012 11:40

Beim Blick auf die Analoguhr scheint der Sekundenzeiger stillzustehen, geht zwei, drei Schritte zurück und wandert weiter.

17.5. 2012 19:00

Im Käfig am Sparrplatz wird ein Turnier gespielt, einziger Deutscher auf dem Platz ist der Schiedsrichter. Die Kleinsten sind vielleicht zehn oder elf, die Mannschaften heißen Afghanistan, FC Bayern, La Familia. Und sehen auch so aus. Wie es sich gehört, wird fast nur mit der Sohle gespielt, kombinieren geht aber auch sehr gut. Und unglaubliches Tempo. Ich überlege, gegen welche Altersklasse ich mit meiner Mannschaft noch antreten könnte. In der Bergstraße haben wir über die Jahre noch alle zufällig den Platz blockierenden Jugendlichen mit unserem Altherrenfußball auseinandergenommen, hier hätte ich schon bei den Zwölfjährigen Bedenken. Wie die rennen. Diese Vitalität. Und wie jung man sein kann.

„Und wie süß die alle sind!“ sagt C. „Kaum zu glauben, daß sie in ein paar Jahren ihre Schwestern umbringen.“