Sieben

2.8. 2010 11:15

Dr. Vier ist keine große Hilfe bei der Beschaffung von Substanzen. Das könne er gar nicht verschreiben und ambulant gebe es das sowieso nicht, das bekäme ich auch nirgendwo anders. Was ich da von Waffen redete – wer immer mich fände, sei traumatisiert. Freunde wahrscheinlich. Und schwierig sei das überhaupt nicht, wie käme ich darauf? Er habe im Notdienst gearbeitet, reihenweise Erschossene gesehen, das habe keiner überlebt. Vor die U-Bahn, vom Hochhaus, oder am einfachsten mit Paracetamol, wirklich kein Problem. Er empfehle ein Hospiz. Freilich müsse man sich umsehen vorher, einen Platz reservieren. Aber schön sei es da, er hätte nur positive Rückmeldungen.

Meine Einwände, daß es um Psychohygiene ginge, werden ignoriert. Trotzdem bin ich froh, mit ihm gesprochen zu haben. Er ist ein guter Arzt, denke ich. Aber Paracetamol googelt man besser nicht.

Auf dem Rückweg stellt sich sofort das Bild der Waffe wieder ein, und gleich geht es mir besser. Das ganze Gespritze war eh ein Irrweg. Daß alles andere nicht hundertprozentig sicher ist, wie X schwört, muß egal sein. Ich will mir ja gar nichts antun. Das ist doch nicht der Punkt.

Aber tagelang durch verrauchte Neuköllner Hinterhofwohnungen laufen zu müssen und mit Leuten zu sprechen, die nicht sagen wollen, wie sie heißen, nur um Gewißheit zu haben – das ist eines zivilisierten mitteleuropäischen Staates nicht würdig.

2.8. 2010 23:01

Mittags alle Sachen in eine Tasche geworfen und nach Binz gefahren, Eltern besuchen. Eine Mutter mit drei Kindern im Abteil, trotzdem die ganze Zeit arbeiten können. Von Kathrin neulich gehört: Die Zugabteile in Europa sind dem Innern von Kutschen nachempfunden. Großraumabteil kommt aus Amerika, und die Fähigkeit, einander stundenlang in die Augen zu sehen, ohne miteinander zu reden, mußte anfangs mühsam gelernt werden.

Am Bahnhof holen mich wie jedes Jahr meine Eltern ab, ein bißchen surreal.

Und dann laufe ich als erstes ans Meer. Der Anblick der abendlichen Ostsee läßt mich kalt. Große Wassermassen, ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Es ist nicht mehr sehr warm, und in der Dämmerung spielen Leute Volleyball.

5.8. 2010 17:30

Der zweite Umbruch (Tschick) ist da. Ich brauche genau zehn Sekunden, um einen katastrophalen Fehler zu finden vom Typus A spricht – B spricht – B spricht. Katja verspricht am Telefon, die anderen korrigierten Stellen noch mal durchzusehen.

7.8. 2010 20:22

Frühmorgens in hohen Wellen gebadet. Kaum Sonne den ganzen Tag. Nachmittags noch mal an den Strand und bei starkem Wind Volleyball gespielt, drei gegen drei. Ich spiele nicht viel schlechter als die anderen jungen Männer. Dann wieder in die Wellen.

Was Dostojewskij sich da zusammenschreibt, ist streckenweise von beachtlicher Schlichtheit. Grausam die Marie-und-die-Kinder-Stelle. Die Motivation seiner hysterischen Szenen läßt zu wünschen übrig. Dann wieder wird seitenlang hierhin und dorthin gegangen und Überflüssiges geredet. Auch der epileptische Anfall ist nicht so makellos beschrieben, der innere Monolog, das Bild des Messers im Schaufenster, die Groschenromanmethoden, mit denen Stimmung erzeugt wird – und doch, wie sehr hat sich das alles in meiner Erinnerung festgehakt. Die Nische, in der Rogoshin steht – ich kann es nicht analysieren und werde es wohl auch nicht mehr herausfinden, warum das Bild einen so starken Eindruck hinterläßt. Vielleicht liegt’s auch gar nicht am Buch, und es ist die Aufladung durch die frühe Lektüre?

Der Idiot war das erste, was ich von Dostojewskij las, und ich las es nur des Titels wegen. Hatte mich schon als Kind fasziniert. Verirrt stand das Buch im Regal meiner Großmutter.

In meiner Familie wurde kaum gelesen, und auf alles, was ich las, kam ich mehr oder weniger zufällig. Über ein Nachwort in irgendeinem Dostojewskij gelangte ich zu Schopenhauer, von Schopenhauer zu Nietzsche, und über Nietzsche, der ihn als gleichwertigen Psychologen zu Dostojewskij führt, zu Stendhal. Ein jahrelanger mühsamer Irrlauf nach Bildung, ein wildes Rumlesen in Zeiten stärksten Liebeskummers. Die Sackgassen waren zahlreich, und daß Sozialleben auch weitergeholfen hätte, war mir damals nicht bewußt. Besonders schlimm nach dem Abitur. Im Zivildienst hatte ich den Eindruck, endgültig zu verblöden, und zwang mich in jeder freien Minute zum Lesen.

Das war etwa zu der Zeit, als ich auch aufhörte, fernzusehen, und Gespräche über Alltägliches ablehnte. Ich empfand das alles als Zumutung und beschäftigte mich (neben meinem Liebeskummer) nur noch mit Malerei und großer Lektüre. Wobei das mit der Lektüre eine große Mühsal war.

Große Lektüre von großem Mist zu scheiden, ist ein zeitraubendes Unterfangen, wenn man aus kulturfernen Schichten kommt und niemanden kennt, der sich sonst noch dafür interessiert. Bis weit ins Malerei-Studium hinein hangelte ich mich an Pongs‘ Lexikon der Weltliteratur durch den Dschungel. Proust gilt dort als ein „Beispiel für die blendende Unmenschlichkeit des ‚L’art pour l’art'“, und seiner Recherche wird soviel Platz eingeräumt wie Gustav Freytags Die Ahnen. Solschenizyn hat bei Pongs fünf Seiten, Böll eine Seite, Salinger eine Neuntelseite, und Nabokov war im Gegensatz zu den Weltliteraten Günter Kunert oder Reiner Kunze 1984 gänzlich unbekannt. Also las ich erstmal Kunert und Kunze. Das meiste, was ich entdeckte, entdeckte ich aus Versehen. Natürlich gab es auch in meiner entfernteren Umgebung immer mal Leute, die von Proust oder dem Fänger im Roggen schwärmten, aber das war von der Schwärmerei für Hesse oder Castaneda für mich nicht zu unterscheiden und zu zeitraubend zu überprüfen. (Castaneda weiß ich bis heute nicht, was das ist.) Sogar meine Freundin las Svende Merian. Ich hielt es für gut, vorne anzufangen bei deutscher Klassik und Romantik, von Goethe bis Heine und den ganzen Quatsch dazwischen leider auch. Zwanzigstes Jahrhundert ignorierte ich ganz, hielt ich für Unfug, zum einen in Erinnerung an meine Schullektüre, zum anderen, weil ich die Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts ebenfalls für Unfug hielt.

10.8. 2010 7:56

Frühmorgens wieder ins Meer, es ist so herrlich. Kann man so was Ähnliches nicht auch in Berlin-Mitte, um aufzuwachen?

Dann an dem problematischen Kapitel 17 gearbeitet, wie hundert Mal zuvor an dem Sturm-Kapitel von Ernst-Wilhelm Händler orientiert, und es – hoffe ich – endlich hingekriegt. Nach drei oder vier Tagen. Ein zehn Seiten langes Kapitel, das nichts weiter beschreibt, als wie einer an einer Leiter vom Dachboden steigt. Ich bin zu langsam für diesen auktorialen Scheiß.

Kathrin ist jetzt im Boot, hoffe ich.

Mein Vater beginnt einen Satz mit: „Ich erinnere mich, vor genau siebzig Jahren …“ Er ist 73. Folgt die Geschichte, wie seine Schwester in der Ostsee schwimmen lernte, mit einer Schlinge um den Bauch.

10.8. 2010 16:05

Es ist wie immer, die Müdigkeit haut wie mit einem Hammer auf mich ein, irgendwann habe ich ein paar wache Minuten, und dann muß ich losschreiben. Danach bin ich für ein paar Stunden immun, sogar gegen Lärm.

Die mittlerweile gelöste Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, daß unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe.

Wir erreichen jetzt den Bahnhof Neubrandenburg.

Ich frage mich, ob ich auf dem Fahrrad aufgeregter zwischen den Polizeistreifen hindurchfahren würde, wenn ich nun unlautere Absichten hätte. Kann mich in die Skrupel dieses früheren Lebens nicht mehr hineinversetzen. Ich glaube, ich könnte jetzt Banken überfallen, ohne daß mein Puls über 60 ginge.

11.8. 2010 23:00

C. liest das Kapitel und gibt den Ratschlag, den sie immer gibt: kürzen, das muß alles schneller in die Handlung münden, und hat wie immer recht. Was ich bräuchte, wären im Grunde Korrekturleser, die direkt hinter mir den Besen durchschwingen. Ich verplempere unglaublich Zeit, nicht nur an aussichtslosen Stellen herumzufeilen, sondern kann auch die Qualität der guten nicht erkennen.

12.8. 2010 4:00

In der Nacht katastrophale Alpträume, versuche im Dämmern immer wieder den Text umzuschreiben und will morgens nur noch das ganze Ding von der Festplatte löschen.

13.8. 2010 1:12

Mir scheint, es ist unerträglich, was ich hier schreibe. (geändert)

15.8. 2010 22:12

Vorgestern großes Treffen im Erholungsheim Clara Zetkin in Teupitz. Früh am Morgen schon geschrieben, dann mit Natascha nach Teupitz und dort gleich wieder an den See gesetzt und weitergeschrieben.

C. ist nicht dabei, ihr Vater wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Cornelius schläft in meinem Zimmer.

Am Morgen finde ich keinen richtigen Platz zum Arbeiten. Mir fehlt mein Tee, mir fehlt die Ruhe, ich mache Smalltalk, führe kein einziges ernstes Gepräch und bin nach ein paar Stunden ein Wrack. Auf der Bootsfahrt liege ich heulend in Saschas Schoß, auch danach überkommt es mich alle fünf Minuten. Dann große Müdigkeit. Ich weiß, daß ich arbeiten müßte, um da rauszukommen, aber ich kann nicht in diesem Chaos. Im Traum laufe ich die ganze Nacht Tobi hinterher, von dem ich weiß, daß er Rettungssanitäter ist und mir zeigen kann, in welchem Winkel man sich in den Mund schießt.

Herrlich das Baden im See. Holm, Marek und Cornelius schwimmen mit Leichtigkeit zur gegenüberliegenden Insel. Könnte ich nicht. Hätte ich nie gekonnt.

Lars‘ Fähigkeit, über größere Zeiträume ganze Gesellschaften zu unterhalten, habe ich so von früher nicht in Erinnerung. War früher, glaube ich, auch nicht so. Er könnte sich ein bißchen beeilen mit seinem Blockbuster.

Am letzten Tag springen alle auf dem großen Trampolin am See. Die Gelassenheit der Eltern, die dabeistehen, während ihre Kinder zwischen Schleudertrauma und Gehirnerschütterung herumhopsen, ist mir unbegreiflich. Ich selbst war seit circa 30 Jahren nicht auf so einem Teil, aber sich mit Selbstvertrauen auf den Rücken fallen lassen, wieder hochschnellen, drehen, irgendwo tief im Körper sind alle diese Bewegungen noch gespeichert. Am ausdauerndsten ist ein Dreijähriger mit Windeln, der sich die ganze Zeit mühelos aufrecht hält.

Abschied nehmen geht nicht, ich muß mich an Jana hängen und mit ihr um die große Masse herum zum Auto laufen. Die Rückfahrt geht sehr schnell, und zu Hause komme ich sofort wieder ins Gleichgewicht.

17.8. 2010 23:55

Kathrin richtet mir die Dropbox ein, damit ich mit ihr und C. zusammen an dem Wüstenroman schreiben kann. Allein würde ich es nicht schaffen, die Materialfülle ist zu groß, ich bräuchte mindestens ein, zwei Jahre. So kann ich wenigstens einmal grob durchgehen in dem Bewußtsein, daß hinter mir jemand aufräumt und es doch noch ein Buch wird.

Ziemliches Motivationsproblem, von morgens bis abends an etwas zu arbeiten, das man mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit als Ergebnis nicht sehen wird. Ich versuche es mit dem Gedanken, daß ich mir in zwei Jahren mit zwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit in den Arsch beißen werde, wenn ich es dann nicht geschrieben habe.

Der Splatter-Film, in den Kathrin abends wollte, ist ausverkauft, statt dessen Toy Story 3, auch fantastisch. Wie unverblüffend die 3D-Sache: Nach einer Minute hat man sich gewöhnt und vergißt es für den Rest des Films.

20.8. 2010 16:20

Wiederholt habe ich jetzt schon meine in der Psychiatrie gewonnene und seitdem relativ unverändert mit mir herumgeschleppte Ansicht geäußert, wir existierten nicht, nichts existiere; ohne Begründung.

Kathrin schickt mir deswegen Aleks‘ Artikel über die Zeit für das Lexikon des Unwissens II, und Aleks, der Astronom, fragt an, wie ich die Konsistenzfrage löste, wer oder was denn meine Ansicht vertrete, nicht zu existieren.

Ich bin nicht sehr beschlagen in der abendländischen Philosophie, fürchte aber, daß diese Konsistenzfrage Descartes‘ bekanntestes, falsches Theorem zur Voraussetzung hat.

Es kommt mir außerdem vor, als sei das Paradoxon nicht schwerer auszuhalten als die von der Physik ohnehin andauernd beobachteten Ungeheuerlichkeiten in der Aufführung kleinster Teilchen. Da kommt ja auch kein Philosoph und verlangt Anschaulichkeit und Konsistenz im Einstein-Podolski-Rosen-Wunderland.

Meine derzeitige Ansicht ist (und ich kann sie logisch nicht begründen, ich befinde mich für mich selbst überraschend jetzt auch außerhalb der Klapse auf einer religiösen „Ich fühle aber so“-Argumentationslinie), daß der winzige Bruchteil der Sekunde, in dem ich zwischen Vergangenheit und Zukunft zu Bewußtsein komme, im Vergleich zur Unendlichkeit dieses Universums auf ein Nichts zusammenschrumpft, auf mathematisch Null. Ein Wimpernschlag, und der Wimpernschlag ist vergangen. Ein Wimpernschlag, und 12,5 Millarden Jahre sind vergangen. Was sich ändert, existiert nicht. In meinen Momenten der Hypomanie sehe ich noch immer im Zeitraffer die Sonne sich aufblähen und unser Weltall plastisch auseinanderfliegen. Ich bitte trotzdem, mich nicht wieder einzuweisen.

Am Ende, wenn die Welt vergeht
Und kein Gedicht weiß, wer wir waren,
Wenn kein Atom mehr von uns steht
Seit zwölf Milliarden Jahren,

Wenn schweigend still das All zerstiebt
Und mit ihm auch die letzten Fragen,
Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
Niemals gegeben haben.

21.8. 2010 23:56

Zum Ende des vierten Zyklus der Chemo nehme ich mir anderthalb freie Tage. Schwierig.

Wieder einen Ordner Prosatexte weggeschmissen, schlechtes Zeug, gestern schon einen Packen aufwendiger Zeichnungen, an denen ich in meinem Studium viele Monate gearbeitet hatte, meine ersten Comics. Alles schlecht.

Abends mit Klaus lange über den Tod Gernhardts gesprochen, seine Arbeitseinstellung zuletzt. Mir nicht klar, wie man aus dieser Nachruhm-Sache irgendeinen Trost ziehen kann. Ich arbeite nur, um zu arbeiten.

22.8. 2010 23:41

Liege die ganze Nacht neben C. unterm offenem Fenster, stundenlang schüttet der Regen, herrliche Nacht. Hatte tagsüber das zweite Tavor seit der Psychiatrie genommen, aus panischer Angst, nicht arbeiten zu können.

Im Traum ein Fuchs mit zwei Köpfen, einer vorne, einer hinten, einer lebendig, einer tot. Versuche, den lebenden zu füttern. Es schneit.

23.8. 2010 14:14

Im strömenden Regen stürzt eine Frau aus einem Restaurant unter meinen Regenschirm und fragt, ob ich sie mitnähme. Ich bringe sie bis zur Mensa. Sie ist Ärztin an der Charité, Innere.

24.8. 2010 22:00

Der Videothekar im 451 bietet zwei jungen Spaniern, Mann und Frau, an, draußen vor die Tür zu gehen. „We don’t have no complaint paper. We can go the shit out on the street, if you want complaint paper. Go back to Spain and there …“ usw.

Gucke Nordsee ist Mordsee, nachdem mich nun auch Jens auf die Ähnlichkeiten zu Tschick aufmerksam gemacht hat. Der Film ist schlecht. Die Stimmung der Bilder trifft es aber genau.