Fünfunddreißig

21.12. 2012 8:51

Trockenes Laub weht auf meiner Terrasse im Kreis, was mich beim Arbeiten immer zum Aufschauen zwingt, weil ich jedesmal denke, es sei die Maus, die sich schon seit zwei Tagen nicht mehr blicken ließ. Terrasse gefegt.

21.12. 2012 22:39

Agota Kristofs Trilogie zum dritten Mal nacheinander in Folge gelesen, das Personal verirrt sich schon in meine Träume. Einer der eineiigen Zwillinge, Klaus, Schriftsteller wie im Buch, steht von Gaffern und Polizisten umringt auf dem Nürnberger Hauptmarkt und hält ein Manuskript mit dem Titel Die glückliche Stadt hoch, dessen sofortige Publikation er verlangt. Es handle von Ungeheuerem, Skandalösem, Verborgenem. Doch niemand, scheint ihm, nimmt ihn ernst; man behandele ihn wie einen Wahnsinnigen. Ein Polizist sagt: Warum bringen Sie es nicht zur Zeitung, um es dort veröffentlichen zu lassen?

Klaus betritt ein Gebäude, dessen Flure und Räume an einen vor Jahrzehnten stillgelegten Bürokomplex der Deutschen Post erinnern, und gibt sein Manuskript zusammen mit einem kleinen Zettel an der zuständigen Stelle ab. Beim Verlassen der Redaktion bemerkt er, daß alle ihm mitleidig nachschauen. Er kehrt um. Ein junger Mann erklärt: Sie kommen jedes Jahr einmal mit Ihren Dokumenten hierher und geben sie zusammen mit einem Zettel ab, auf dem steht: „Bitte nehmen Sie mein Manuskript entgegen, tun Sie so, als ob Sie es drucken, und lassen Sie mich niemals wissen, was auf diesem Zettel steht.“

Das große Heft.
Der Beweis.
Die dritte Lüge.

Die Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts in einer Nußschale, die die Dimensionen eines Riesentankers hat, ungeheuer, wahnsinnig, maximal kaputt.

24.12. 2012 22:16

Spaziergang allein am Kanal, Invalidenfriedhof, Charité-Mitte, Torstraße, die alte Wohnung, uninteressant, Kastanienallee komplett ausgestorben, keine Säufer, keine Familie, zwei Weihnachtsmänner, eine Currywurst, mit dem Taxi zurück, Klassikradio, speech arrest, todmüde.

25.12. 2012 2:32

Nächtlicher Anruf, niemand dran, dann Kopfschmerzen, die auch mit Ibuprofen nicht verschwinden, Stunden wach, Möglichkeiten durchgespielt, alles ordnen, raus hier. Erstmals eine Nacht, die schlimmer ist als ein Morgen.

28.12. 2012 18:22

Erneuter Antrag auf Avastin erneut abgelehnt mit exakt demselben Textbaustein, ein positiver Einfluß von Avastin bei rezidividierendem Glioblastom sei nicht ersichtlich. Daß mit der PCV-Therapie auch die letzte Möglichkeit ausgeschöpft wurde, interessiert den Medizinischen Dienst der Krankenkassen einen Scheiß. Genausowenig die erfolgreiche Phase-III-Studie aus den USA. Bleibt nur Klagen, dauert Monate oder Jahre – und dann? Wird der positive Bescheid vom Sozialrichter persönlich Wort für Wort in den Schnee über mein Grab gepinkelt?

3.1. 2013 9:48

Zwei Stunden lang läuft das Avastin in mich rein, eine glasklare Flüssigkeit, Patient zahlt. Zwei Zyklen, ein Monat, kosten 7000 Euro. Davon habe ich früher ein Jahr gelebt.

6.1. 2013 12:22

Inschrift auf dem Grab Duchamps: D’ailleurs c’est toujours les autres qui meurent.

10.1. 2013 4:00

Die irre Stalkerin wieder. Diesmal: Was ist Ihre Lieblingsfarbe? Rest der Nacht ohne Schlaf, das Festnetz endgültig unbenutzbar. Bisher immer noch rangegangen, weil C.s Vater weiter im Sterben liegt. Bestimmt vor zehn Jahren schon die Telekom gebeten, die Nummer zu streichen. Wenn ich auf Arztanrufe warte oder gerade mit C. gesprochen habe, vergesse ich oft hinterher, den Stecker zu ziehen.

Außer Stalkern und Irren auch noch eine wachsende Gruppe von Hilfesuchenden, die sich in der Regel brieflich meldet. Aber nicht nur.

Sind Sie der?

Ja, bin ich.

Sie müssen drei Fragen beantworten.

Wer spricht da, bitte?

Deneb. Die Hausaufgabe ist nämlich der Lebenslauf, Heirat zum Beispiel. Da steht nichts auf Wikipedia.

Ich beantworte keine Fragen.

Schweigen.

Am Ende meine Bitte an Deneb, der verantwortlichen Lehrkraft auszurichten, sich die Hausaufgabe in den verblödeten Arsch zu stecken. Sag ihr, daß ich das gesagt habe, sage ich. Und vergiß nicht das mit dem Arsch.

Bitten um eine Inhaltsangabe kommen häufiger. Aber im Moment scheint irgendwo ein Formular zu kursieren, das so beknackt ist, daß es eigentlich nur aus einem dieser Bücher für geistig unbeschenkte Lehrer stammen kann: Wie sieht das Leben des Autors aus? Biografie? Und hier die für das Textverständnis besonders wichtige Frage: Familienstand?

18.1. 2013 8:00

Morgens vom Tod Jakob Arjounis gelesen und mit sonderbar unpassender Beschwingtheit das Haus verlassen und auf den Weg zu Dr. Vier gemacht.

18.1. 2013 11:50

Wieder Gespenster, wieder Stimmen im Kopf. Hier, sagt die Apothekerin, hier bin ich.

18.1. 2013 16:37

Die sehr gute Geschichte „In Frieden“ von Arjouni auf Youtube angehört. Blumen. Erde. Und der ganze Scheiß.

18.1. 2013 19:07

Das Radio spricht mit mir. Neben mir im Bett liegt der Stoffhase. Wir sind fast genau gleich alt, und gemeinsam kämpfen wir gegen den Anfall. Die Uhr zählt die Minuten.