Einunddreißig

21.8. 2012 23:59

Spaziergang um den Plötzensee in die wetterleuchtende Nacht hinein. Auf den Steinstufen ein Pärchen, das sich im Nieselregen auszieht, um zu baden, es donnert. Ich biege rechts in den Park, die bekannte Baumgruppe, seitlich Grabsteine, Grablichte, eine schwach erleuchtete Villa.

Ich laufe matschige Wege, laufe durch Gras, das höher wird, dann kniehoch. In der Ferne Reste eines Tores, dahinter eine Lichterreihe, die eine unbefahrene Straße zu säumen scheint, von der mich ein hoher Zaun trennt. Ich gehe hin und her, die Baumgruppe folgt mir wie ein Schatten, jetzt will ich zurück. Nachdem ich zum fünften Mal vor der Villa stehe, weiß ich, daß ich mich verlaufen habe. Ich stapfe durch Unterholz und Morast und versuche, es unter Recherche für den neuen Roman zu verbuchen.

In unregelmäßigen Abständen ein schwacher Schein in den Sträuchern, eine Art Bach, eine betonierte Abflußrinne, ist das der See?

Handy hab ich dabei, aber was soll ich damit? Hallo, einen Notfallhelikopter mit Wärmebildkamera zum Plötzensee bitte, Herrndorf hier, ja, nicht weit vom Ufer des Plötzensees entfernt unter einem großen Busch, Hartriegel, ja, nein, das könnte Hartriegel sein, natürlich ist das mein Ernst, Hirnschaden, Heinrich Emil Richard Richard Nordpol, D, Dorf wie Dorf –

Endlich ein Radfahrer, den ich fragen kann. Falls er nicht bremst, plane ich, mich mit ausgebreiteten Armen auf den Weg zu stellen, und wenn er versucht, um mich herumzufahren, bin ich entschlossen, ihn am Gepäckträger festzuhalten, so groß ist die Angst mittlerweile. Aber er hält, und extrem freundlich weist er mir den Weg: einfach da geradeaus.

Der Klang seiner Stimme und der im Nullwinkel gehobene Arm verraten mir, daß wir uns keine zwanzig, dreißig Meter vom See entfernt befinden können. Also einfach geradeaus. Zur Sicherheit strecke ich beide Arme vor, um den Sektor, innerhalb dessen mein Ziel liegt, noch einmal zu markieren. Daß das mit den Armen nicht funktioniert, wird mir nach drei Schritten klar, und stattdessen einen Baum anzupeilen, funktioniert genauso wenig. Die Bäume sehen alle gleich aus, und wenn ich um einen herum bin, weiß ich nicht, woher ich komme und wohin ich muß.

So irre ich zwischen Parkanlagen, Wiesen und Friedhöfen immer weiter im Kreis, bis ich im Licht eines explodierenden Blitzes plötzlich etwas durch das Laub aufblinken sehe, und das ist der See.

Zu Hause steige ich mit Jeans und Schuhen unter die Dusche, und ein halber Kubikmeter Sand, Gras und Schlamm spült von mir herunter in den Abfluß.

31.8. 2012 18:30

Die Schwester führt mich in den Raum mit dem Magnetresonanztomographen. Auf dem Untersuchungstisch liegt eine nackte Frau mit weit gespreizten Beinen. Da ist schon jemand, sage ich, und die Schwester führt mich in den nächsten Raum. Aus Angst, es könnte nun jeder mitkriegen, daß der Arzt seine Patientinnen vor dem MRT vögelt, versuche ich, so leise wie möglich aufzutreten; aber das ungenierte Gebaren der Belegschaft macht mir klar, daß es ohnehin längst alle wissen.

Das ist der Traum, den ich habe in der Nacht vor dem MRT. Kurz vor Mittag liege ich in der Röhre, und bis zum Abend warte ich zu Hause auf den Anruf des Radiologen. Normal erfahre ich den Befund von ihm nie, aber es ist Wochenende, und wenn das Glioblastom in meinem Kopf zufällig gerade explodiert sein sollte, kriege ich aus naheliegenden Gründen heute schon Bescheid.

Ich warte. Am späten Nachmittag eine unbekannte Nummer im Display, und ein Mann fragt, wer ich bin. Ich frage, wer er ist, und er spricht von wissenschaftlichen Methoden, nach denen nun vorgegangen wird. Erst nach einer Minute Gerede wird mir klar, daß er fürs Forsa-Institut arbeitet, und ich verabschiede ihn mit den leider viel zu schwachen Worten, er solle aus meiner Leitung gehen – gehen Sie aus meiner verdammten Leitung, ich sterbe, Sie verblödeter, im Leben nichts gelernt habender Callcenterarsch von Ihrem Scheiß-Forsa-Institut –

2.9. 2012 11:25

Während des Studiums in Nürnberg bin ich manchmal bei Karstadt einkaufen gegangen, ein Nobelschuppen mit goldenen Einkaufswagen. Da hatten sie einen jungen, schwindenden Mann, der an der Kasse angelernt werden sollte. Das ging nicht, also räumte er eine Weile die Regale ein. Das ging auch nicht, also schob er hinter der Kasse die Wagen zusammen. Monatelang. Es brauchte nicht unbedingt einen Einkaufswagenschieber, aber da schon mal einer da war, ließen die Leute ihre Wagen sofort hinter der Kasse los, ein Chaos war die Folge. Nach einiger Zeit drehte der junge Mann durch. Sein Gesichtsausdruck wurde freudig erregt, sein Mund formte lautlose Schreie. Wenn er einen Einkaufswagen geschnappt und in die Schlange der wartenden Wagen geschoben hatte, machte er die Säge. Er lief zwischen hochtoupierten Seniorinnen mit Gleitsichtbrillen hindurch, sein Blick suchte niemanden. Manchmal riß er beide Arme hoch, wenn ihm ein besonderer Coup des Wagenzusammenschiebens gelungen war. Irgendwann sah ich ihn nicht mehr.

Neben dem Dauergrinsen, das meinem Körper signalisiert, daß in meinem Leben alles nach Plan läuft, ist die Beckerfaust nun meine Standardgeste, wenn mir wieder ein besonderer Coup beim Sätzezusammenschieben gelungen ist.

5.9. 2012 8:30

Linke Seite trotz Rückbildung des Ödems immer irgendwie wie verschwunden wirkend, der linke Fuß ist oft taub und eiert beim Gehen, im Bett weiß ich nicht, ob der Arm, den ich streichle, C. gehört oder mir.

5.9. 2012 10:04

Neue Chemo nach dem PCV-Schema, das vor der Entdeckung des Temozolomids gebräuchlich war und dessen Versagen an mir für die Krankenkasse noch einmal erwiesen werden soll, um Genehmigung und Kostenübernahme für Avastin zu erhalten.

Heute eine Spritze Vincristin plus fünf Kapseln CCNU, Procarbazin folgt nächste Woche, kotzen bei Bedarf.

Befund: Neu nachweisbare temporale Schrankenstörung auch in der vorbekannten kortikalen Strukturstörung links temporoparietal, so daß (neben im Verlauf weitestgehend konstanten niedergradigen Tumoranteilen) nun auch dort höhergradiges Tumorgewebe dringlich zu verdächtigen ist. Neu angrenzende Leptomeningen akzentuiert, verdächtig auf beginnende Infiltrationen DD Aussaat.

9.9. 2012 17:30

Im See im Nichtschwimmerbereich, C. am Ufer. Hinterher alles zu laut, zu viele Leute. Unter meine Jacke und drei Decken versteckt liege ich auf irgendwessen Oberschenkeln.

12.9. 2012 18:37

Und Himmel, könnt ihr euch das mühevoll zusammenrecherchierte Epitheton für den krebskranken Schriftsteller mal in den verblödeten Arsch stecken, Freunde der Henri-Nannen-Behindertenschule? Ich nenn euch doch auch nicht dauernd behindert, nur weil ihr es seid.

15.9. 2012 6:56

Wie neun Jahre lang jeden Tag, während ich das Gymnasium besuchte, weckt mich der Wecker – es ist noch derselbe – um 6 Uhr 50. Dann trete ich barfuß auf die Terrasse, greife das verzinkte Geländer und beginne mit Blick über Berlin meine mittlerweile ans Lächerliche grenzende Gymnastik.

Hätte ich als Kind auf meinem Schulweg am Friedrichsgaber Weg einen alten Mann auf seinem Balkon so herumturnen sehen, ich hätte Ekel empfunden.

Hier gibt es zum Glück keine Schulkinder, ich muß mich nicht schämen. Ich schäme mich trotzdem. Das von der Herde getrennte, sich versteckende, seine Verletzungen zu verbergen suchende Tier; als wäre der Leopard mit ein paar Liegestützen, Kniebeugen und Dehnübungen zu täuschen.

Zwei Krähen streichen von Süd kommend über mich, meine Terrasse und das hinter mir liegende Dach in den dunkleren Himmel. Links das älteste, unvergeßlich schönste Schauspiel der menschenbewohnten Welt: Seine Klauen durch die Wolken sind geschlagen, er steiget auf mit großer Kraft.

16.9. 2012 16:30

Baden im morgens baumgrünen, nachmittags blaugrünen Plötzensee. Fast keine Leute mehr. Gerutscht im Wechsel mit einem fünfjährigen Mädchen, das beim Ersteigen der Aluleiter weniger Probleme hat als ich. Vier Meter Schwerelosigkeit, Wasser in der Nase und ein Spaß, der hauptsächlich die Erinnerung an Spaß ist.

18.9. 2012 2:03

Traum: In einem Dresdner Museum führe ich eine Gruppe meiner Freunde vor zwei Werke, über die sie ein vergleichendes Urteil abgeben sollen. Das eine ist eine Ölskizze mit schrägem Lichteinfall auf eine stehende Figur, schon an der Palette relativ leicht als Adolph von Menzel erkennbar, das andere eine naiv zusammengemanschte Tonskulptur eines kleinen, pummeligen Häuschens mit fröhlich grün glasiertem Garten drumrum. Niemand wagt sich hinaus in die Möglichkeit eines Fehlurteils. Nachdem die Mehrheit meiner Freunde dem Ölbild den Vorzug gibt, erkläre ich auftrumpfend die Schwächen des viel zu routiniert gemachten Menzels mit seiner fehlerhaften Komposition, während die Haus-mit-Garten-Skulptur Uwe Tellkamps ein Meisterwerk sei.

19.9. 2012 10:43

Zweieinhalb Meter von meinem Arbeitstisch entfernt trapst und schlittert ein Spatz über das Laminat. Den Weg zurück durch das Labyrinth zweier Fensterfronten ins Freie findet er leicht. Wie befohlen schütte ich die Frühstückskrümel auf die Terrasse.

20.9. 2012 8:30

Jeden Morgen ist der Kanal von Salomon van Ruysdael gemalt.

23.9. 2012 8:45

Traum: In einem nordkoreanischen Lager wird ein Mann, der nur noch aus Haut und Knochen besteht, von Kim Jong-un persönlich hingerichtet. Eine Maschine schreddert den Verurteilten, preßt ihn zusammen und spuckt ihn in Form eines haarigen Bonbons wieder aus, der von seinem Zellennachbar gegessen werden muß. Der Zellennachbar bin ich.