Sechsundzwanzig

18.3. 2012 23:32

Ein schattenhafter, unwirklicher Tag. Sonne von morgens bis abends, Fahrt zum See. Die Bäume ändern ihre Farbe, die Dinge sind wie keine Dinge. Tex wollte kommen und schwimmen, aber Tex kommt nicht. Dann habe ich zu lange gewartet und schwimme auch nicht. Im Deichgraf zwischen Lars und Cornelius fühle ich mich wie ein Mensch, und auf dem Weg nach Hause wieder wie ein Schatten. Neben C. liegend wie ein Mensch, und als sie geht: ein Schatten.

21.3. 2012 9:02

Traum: Mit sechs oder acht anderen nehme ich an einer Medikamentenstudie teil. Hinter einem Pult stehend erklärt Lukas die Modalitäten. Jeder bekommt eine Tablette, ich schlafe ein. Am Morgen merke ich, daß alle anderen Betten schon leer sind. Lukas schaut im Raum umher und sagt: Oh, da ist ja noch einer. Er tritt an mein Bett und betastet die Luft über dem Kissen, auf dem bis eben noch mein Kopf gelegen hat, die Stelle, wo meine Stirn gewesen war, und macht ein nachdenkliches Gesicht.

22.3. 2012 16.54

Lektüre: Imperium. Stilblüten, Redundanzen, Adjektive. Kein Lektorat, wie man hört, und das zuletzt auf welchen Wegen auch immer in Druck gelangte Syntaxmassaker macht es schwer zu entscheiden, ob darunter tatsächlich noch ein Roman verborgen ist. Nach zehn Seiten die Frage, ob das Absicht sein könnte – aber was für eine? -, nach fünfzig Seiten weggeworfen. Hin und wieder ein Kracht-Satz wie früher, ein gutes Bild, aber zu 95 Prozent zweitklassige Parodie eines viertklassigen Autors der vorletzten Jahrhundertwende. Oder wie der Verfasser selbst nun vermutlich sagen würde: Ein in einem aufs Allerärgste fidel und famos mißlungenen Stile verfaßtes Palimpsest, welches auch der wohlweisliche Gebrauch eines lustig in der Luft vor des Protagonisten blaßbewimperten Augen wippenden Federkiels zur Verfertigung gleichsam nicht habe salvieren können. Hätte habe hat. Cum grano salis dergestalt indessen. Das Erstaunlichste an alledem vielleicht, was sich das Feuilleton noch immer für einen Begriff von Thomas Mann macht.

Wenig hat mich so geprägt wie Faserland vor fünfzehn Jahren.

23.3. 2012 8:51

Bleib, mein goldener Vogel
Und tanze durch die Tränen
Und flüstere mir vom Leben
Im Himmel warten Bäume auf Dich
Man sagt sich mehr als einmal Lebewohl
Rückruf ins Leben
Malt Mami jetzt den Himmel bunt?
Wie ich den Krebs besiegte und die Tour de France gewann
Mut und Gnade
Wunder sind möglich
Arbeit und Struktur

25.3. 2012 15:00

Forsythien und Teppiche von Blaustern auf dem Weg zum Plötzensee.

25.3. 2012 18:07

„Lange Zeit schon will ich mich bedanken für das Frühstück im Hotel am Meer“, beginnt der Brief einer Frau, die ich nicht kenne, nie getroffen habe, nur vor sehr langer Zeit einmal bei Alexander Kluge sah und sofort in meinen ersten Roman hineinschrieb, wo sie dem betrunken heimkehrenden Protagonisten aus dem Fernseher heraus äußerst Charmantes und Gescheites über Proust zu sagen weiß. Zehn Jahre ist das nun her, und was für ein reizender Brief.

30.3. 2012 18:00

Seit gestern sind die Gespenster zurück, die nach der letzten OP vor einem halben Jahr in meinem Sichtfeld aufgetaucht und dann bald wieder verschwunden waren. Damals Reizung des Hirns nach der Operation, jetzt Narbenbildung oder das Naheliegende.

Fußball, auch deshalb, Test, ob’s noch geht. Geht. Nicht gut, aber für eine Torvorlage reicht’s.

31.3. 2012 15:36

Hagel und Schnee und Gewitter.

Die Arbeit am im November gestarteten Science Fiction aus Kompliziertheitsgründen seit langem abgebrochen. Stattdessen Isa, Roadmovie zu Fuß. Mit etwas Rumprobieren einen Ton gefunden, schreibt sich wie von selbst. Und praktisch: Kein Aufbau. Man kann Szene an Szene stricken, irgendwo einbauen, irgendwo streichen, irgendwo aufhören.

1.4. 2012 19:30

Young Adult, Take Shelter, der Junge mit dem Fahrrad. Am Urteil der anderen merke ich, daß ich von allem viel zu begeistert bin, Kino schaltet mein Hirn komplett aus. Nach Take Shelter kommt es qua Einfühlung in den Protagonisten zu einem kurzen Moment der Geisteskrankheit, als mir, während ich umständlich meine Jacke anziehe, plötzlich einfällt, daß in meinem Kopf ja auch etwas nicht in Ordnung war, ich mich aber ums Verrecken nicht erinnern kann, was. Dasselbe wie bei Michael Shannon? Was anderes? Gar nichts? – Ach nein, ach nein, ich weiß es wieder.

8.4. 2012 3:02

Traum: Mit Philipp und Kathrin steige ich ein dunkles Treppenhaus hinab. Ein Geschoß über uns tritt Natascha aus einer Tür und sagt: Und übrigens, Robert ist tot. Das stimmt doch nicht, sage ich, und der flüsternde Ton meiner Stimme scheint mir sofort unangemessen in zweierlei Hinsicht. Erstens kann mich niemand hören, außerdem würde Natascha mit so etwas nie scherzen. Ich renne die Stufen hinauf, gehe vor ihr in die Knie und umschlinge mit beiden Armen ihre Taille. Irritierenderweise ist ihr T-Shirt bis unter die Brust hochgeschoben. Natascha, flüstere ich, und die Situation bekommt etwas immer Unechteres, Theatralischeres durch den Klang meiner Stimme. Ich überlege, ob mein falsches Benehmen eine Folge meiner Erschütterung sein könnte, und weiß, daß die Vernünftigkeit dieses Gedankens sich selbst widerlegt. Natascha, wiederhole ich, aber sie ist mit in den Nacken gelegtem Kopf erstarrt, den Blick zur Decke erhoben, man sieht das Weiße in ihren Augen. Natascha, sage ich, Natascha, Natascha, Natascha, Natascha. Ratlos warte ich auf Kathrin und Philipp, die nicht erscheinen. Ich überlege, in die unbeleuchtete Wohnung hineinzugehen, in der, wie ich weiß, ein Computer stehen wird, auf dem ich im Internet nachschauen kann, ob Robert wirklich tot ist. Denn woher sollte Natascha die Information sonst haben? Dann hole ich das Macbook ins Bett, um den Traum aufzuschreiben.

9.4. 2012 15:12

Der erste Brustschwimmzug des Jahres im Plötzensee. Schlüsselbein steht komisch hoch, sonst kein Problem.

15.4. 2012 20:10

Recherche: Unter den Brücken von Helmut Käutner.

17.4. 2012 21:46

Morgen MRT. C. ruft an, um zu sagen, daß ihr Vater die Nacht vielleicht nicht überlebt. Nein, du mußt nicht kommen, nein. Bayern gegen Real. Anschließend Dokumentation über ugandische Kindersoldaten. Von Rebellen verschleppte Mädchen, die in einem Heim auf ihren HIV-Test warten. Ihr größter Wunsch ist es, eine Schule zu besuchen und lesen und schreiben zu lernen, ohne daß erkennbar wäre, warum. Nichts deutet darauf hin, daß es ihnen in ihren Dörfern etwas helfen würde. Ihren Familien sind sie entfremdet, Geister müssen ausgetrieben werden. Ein Mädchen möchte lieber zu den Rebellen zurück, in das ihr besser bekannte Leben. Jungen verbringen die Nächte auf den Straßen, wo es sicherer ist als in den Häusern, die immer wieder überfallen werden. Einem haben sie Nase und Lippen abgeschnitten. Er war zu unrecht bezichtigt worden, Soldat gewesen zu sein, und die Rebellen haben ihn an einen Baum gebunden und beide Ohren, Nase und Lippen abgeschnitten. Dann wurde eine Hand abgehackt. Er bat, ihm die andere zum Leben zu lassen, und sie haben sie auch abgehackt. Ich habe geweint, sagt er.

18.4. 2012 9:39

Teetrinken, lesen und arbeiten an einem herrlichen Morgen mit blauem Himmel über der Zivilisation und den sich heute sehr stark materieähnlich gebärdenden, gelben Häusern vor meinem Fenster.

19.4. 2012 14:11

Befund liegt dem Onkologen nicht vor, nicht auf dem Schreibtisch und auch sonst nirgends. Anruf beim Radiologen, dann verschwindet Dr. Vier Richtung Empfangszimmer, wo sich hinter drei freundlichen Empfangsdamen in weißen Kitteln für gewöhnlich das Faxgerät versteckt.

Ausblick über Berlin und die Plattenbauten. Ein Stethoskop. Ein oranger Notizblock. Eine grüne Kaffeetasse mit Teelöffel. Eine Brille, eine schwarze Tastatur, eine schwarze Schreibtischunterlage. Eine exotische Pflanze. Eine Blutdruckmanschette. Drei Stühle. Dunkelgrauer Nadelfilz. Ein bunter Porzellanelefant auf dem Boden. Das polierte Holz der Tischplatte, auf der Rücken an Rücken mit dem Arztrechner mein Macbook steht, in das hineingehackt wird. So, sagt Dr. Vier, setzt sich und liest. Aha, aha. Schrankenstörung, Strukturstörung, Balken, kennen wir ja. Leukenzephalopathie und immer wieder das Wort progredient. 5,3 Zentimeter hinten links, mehr oder weniger stabil. Besser geht’s doch kaum, behaupte ich, Dr. Vier widerspricht. Aber erstmal drei Monate? Ja, das wohl.

Und ab.