Fünfundzwanzig

22.2. 2012 20:00

Immer die gleiche Überraschung, wie viele meiner Freunde und Bekannten Psychotherapeuten, Psychologen und Analytiker beschäftigen. Wann hat das angefangen? Und für was für Probleme? Die Ansicht, jemand, der einmal in der Woche ein anderthalbstündiges Gespräch mit mir führt, könne etwas über mich herausfinden, was ich, der ich seit vier Jahrzehnten mit mir zusammenlebe, nicht weiß, teile ich nicht. Glaube ich nicht. Läßt mein Stolz nicht zu. Außerdem hab ich keine Probleme.

23.2. 2012 11:34

Eine Frau, mit der ich zusammen die erste Klasse der Grundschule besuchte, schreibt mir, wie wir morgens den Weg oft gemeinsam gingen. Am Holunder vorbei, in dem eine Höhle war, in die die Bauarbeiter pinkelten, dahinter die alte Frau Naujoks, bei der man Erdbeeren pflücken durfte, das Haus, wo ein Kind wohnte, das niemand kannte, Schuster Bonhof, die Eiche, Fußpflege Wagner und das Renault-Zeichen von Lüdemann & Sens. Soweit ich mich erinnere. Dann die Broscheits, wo man lieber nicht zu nahe ranging.

Auch an das Mädchen erinnere ich mich, aber nicht an den gemeinsamen Weg zur Schule. Immer nur an den Rückweg. Sie hat bei Klever Kaugummi auf die Klingel geklebt, ihr Bruder bei Bretfeld Bumerangs geschnitzt.

25.2. 2012 9:22

Lektüre: Agota Kristof, Cormac McCarthy, Goethes Hymnen, Müllers Interview mit seiner Mutter, Psalm 88.

Kerouac: But then they danced down the streets like dingledodies, and I shambled after as I’ve been doing all my life after people who interest me, because the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn like fabulous yellow roman candles exploding like spiders across the stars and in the middle you see the blue centerlight pop and everybody goes „Awwww!“ What did they call such young people in Goethe’s Germany?

25.2. 2012 9:28

Da ich ein Kind war,
Nicht wußt‘, wo aus, wo ein,
Kehrte mein verirrtes Aug‘
Zur Sonne, als wenn drüber wär‘
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Seit Nächten derselbe Traum: Ich bin doppelt, eine Art eineiiger Zwilling, Männer verfolgen mich, Türken, Männer mit Messern. Sie töten einen von uns. Der andere schaut zu.

25.2. 2012 19:30

Die Kriegerin, altes Thema, bißchen schematische Nazis, aber die sind ja auch in Wirklichkeit gern mal schematisch. Und Alina Levshin als Hauptdarstellerin Wahnsinn. Selbst ein Dialogsatz wie „Warum erwiderst du meine Liebe nicht?“, der im Trailer noch nach Drehbuchversagen aussieht, entpuppt sich in der Vergewaltigungsszene als exakt der Vorabendserienquark, der einem beschränkten Hirn hier situationsangemessenerweise entfährt.

1.3. 2012 19:00

Heute morgen Krankenhaus, Vollnarkose, keinen Arzt gesehen, abends nach Hause. Ein Stück Stahl, das in meiner Schulter war und aussieht wie eine in der Behindertenwerkstatt aus einem riesigen Nagel zusammengedrehte Büroklammer, in der Tasche. Schon im Aufwachzimmer, dann in der Tram und schließlich zu Hause liest C. aus dem Spiegel Georg Diez‘ zweiten Anlauf zu einer vier Seiten langen Selbstexekution vor. C.: „Ich bin erschöpft von soviel Dummheit.“

Nachdem er vor Jahren bereits einmal völkische Tendenzen bei ausgerechnet Jens Friebe entdeckt hatte, kann ich das alles leider nur mit großer Schadenfreude betrachten.

4.3. 2012 21:00

Sonnenschein, See. Abends zu Fuß zurück unter den überm Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal sehr hellen Venus und Jupiter. Ganz oben Capella, in den Sträuchern Sirius.

5.3. 2012 19:31

Auf Youtube einstündige Dokumentation Choosing to Die. Der alzheimerkranke Terry Pratchett begleitet den an Amyotropher Lateralsklerose leidenden Hotelier Peter Smedley zum Sterben in die Schweiz. Fahrt durch Zürich, häßliche Häuser, Baustellen, kahle Bäume. A lovely place.

Smedley trinkt Kaffee in einem schmerzlich genau einem Wohnzimmer nachgebildeten Raum, dessen Mobiliar und an den Wänden verteilte Blumen- und Landschaftsgemälde nicht weit über die Geschmacklosigkeit eines Arztwartezimmers hinauskommen. Rundum sehr entspannte Atmosphäre, der Papierkram kommt auf den Tisch. Yes, I’m sure. Yes. No, that’s fine. It all makes perfect good sense.

Eine Mitarbeiterin mit schulterlangem weißen Haar und rotem Schlabberpulli bringt etwas Magenberuhigendes, bietet eine weitere Tasse Tee an, Smedley lehnt ab. Schnitt. Man sieht die Frau Besteck abtrocknen in der Küche. Ein Dignitas-Mitarbeiter raucht auf dem Balkon. Schnitt.

Smedley mit Frau und Pratchett am Tisch: The next one ist the, is the, uh …

Smedleys Frau: The killer?

Oh, yes.

Smedley sucht eine Praline aus. Er erkundigt sich nach der Uhrzeit. Not that I’m in a hurry. But I’m just, uh, interested to know.

Sie setzen ihn aufs Sofa. Seine Frau setzt sich neben ihn. Frage, ob sie wirklich da sitzen will. No, I need some care, sagt Smedley. That would be the case. Sie küssen sich.

Peter Lawrence Smedley – die Dignitasfrau spricht die Formel im Tonfall eines Priesters bei der Trauung – are you sure that you want to drink this medicament with which you will sleep and die?

Yes, I’m quite sure. That’s what I want to do.

I give you the medicament. You’re sure?

I’m sure. Thank you.

Er nimmt das Glas mit der weißlichen Flüssigkeit, schaut einige Sekunden hinein und trinkt. Gibt das Glas zurück, die Frau stellt es ab. Hinter ihr auf der Fensterbank eine kupferne Blumengießkanne, an einem Kleiderständer ein verlassenes schwarzes Jackett. Jemand hält eine kleine Kamera ins Bild, um zu dokumentieren, was auf dem Sofa geschieht.

Smedley steckt das ausgewählte Stück Schokolade in den Mund, stöhnt, führt eine Hand unter sein Herz. Ghastly taste. Er trinkt etwas Wasser.

Die Kamera schwenkt über den Raum zu Pratchett, der den Kopf in die Hand gestützt hatte und sie jetzt herunternimmt.

Schwer zuzuordnende Stimme: Bye-bye.

Thank you for looking after me. I would like to thank everybody else. Thank you. First class, too.

Pratchett gibt Smedley die Hand. Taschentücher werden über Smedleys Schoß hinweg gereicht, seine Frau streichelt seine Finger. Be strong, my darling, sagt er. Just relax, sagt die Dignitasfrau.

Smedley hustet, sein Kinn wird abgewischt. Großaufnahme Pratchett, Smedley stöhnt im Off. Er verlangt nach Wasser. Das Wasser wird ihm verweigert. Die Dignitas-Mitarbeiterin hat einen Arm um seinen Kopf gelegt, hält ihn fest und streicht ihm übers Haar, während seine Hand sich vergeblich nach dem Glas ausstreckt. Smedleys Frau tupft sich ein Taschentuch unter die Nase und schaut in die andere Richtung. Smedley nuschelt Unverständliches, er knattert, er stöhnt, er grummelt. He’s sleeping now, erklärt die Dignitasfrau, very deep. No pain at all. He’s snoring, he’s sleeping very very deep. He feels in a unconsciousness, and then afterwards, uh, the breathing will stop. And then the heart.

Smedley, oder was er einmal war, sitzt umgesunken neben seiner Frau. Man hört ihn schnorcheln. Die Mitarbeiterin entfernt sich. Niemand verliert die Fassung.

That’s what he wanted. And he was ready to go. Yes. Now you are allowed to cry. Let it come out. It does you good. Everything you kept inside until now, let it out.

Am Küchentisch werden Formulare ausgefüllt. Der Blick durchs Fenster zeigt schneebedeckte Fichten.

5.3. 2012 19:59

So will ich nicht sterben, so kann ich nicht sterben, so werde ich nicht sterben. Nur über meine Leiche. Der Film hat 8,4 Punkte auf IMDB, und lustig: „This review may contain spoilers.“

9.3. 2012 13:17

Der Versuch, den immer wiederkehrenden vierzehntägigen Zyklus aus Frei- und Chemowoche tabellarisch zu untersuchen in den Kategorien Kopfschmerz, Schlafdauer, Fatigue, Arbeit und Epilepsie Querstrich Aura, hat sich als vergeblich erwiesen. Gearbeitet werden konnte praktisch immer, Wachheit und Stimmung korrelieren, wenn überhaupt, mit dem Erfolg der Arbeit, nicht mit der Einnahme der Medikamente, und gegen Arbeitsmüdigkeit hilft Arbeit. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Was einerseits schön ist. Andererseits scheint auch die Aura arbeitsgebunden.

Wurden die Anfälle zunächst durch optische, dann durch auditive Reize, durch Musik, laute Geräusche, Stimmen und Gespräche – insbesondere durch inhaltslose Gespräche, die dem Hirn formal das Signal gaben, daß hier ein Inhalt prozessiert werden müßte, der dann aber nicht prozessiert werden konnte, da er nicht existierte, was jedes Mal äußerst mühsam und das Gehörte immer wieder neu ordnend umständlich festgestellt werden mußte -, getriggert, ist es nun das Lesen, Schreiben und Sprechen selbst, das die sich im Hirn verhakenden, schlangenhaften, in sich selbst verbissenen, schleifenden Schleifen und Gedanken, die von anfänglicher Unsicherheit über Wirrnis bis zur Sprachblockade führen, hervorzubringen scheint. Punkt, neuer Absatz.

11.3. 2012 23:06

Start in die Badesaison. Nicht geschwommen, linke Schulter nicht belastbar, aber immerhin schon im See gestanden und auch irgendwie gelegen, toter Mann gespielt, dann an den Steinstufen einarmig aus dem Wasser gestützt. Herrlicher Tag, acht oder zehn Grad, man riecht den Frühling. Bald werden die Bäume grün, lindgrün und maigrün und dunkelgrün vielleicht, aber lindgrün auf jeden Fall schon mal.

15.3. 2012 12:52

Den wie immer auf englisch, wie immer mit einem Rhythmus oder einer Melodie unterlegt sein erscheinenden Text während des Status epilepticus erstmals zu fassen gekriegt, zuerst ein Wort, dann die ganze Zeile: I see a red door and I want it painted black. Nicht ganz so interessant, wie ich gedacht hatte.

18.3. 2012 11:29

Die Zahl der Irren nimmt nicht zu, aber auch nicht gerade ab. Brief, Mail, Telefon, guten Tag, mein Name ist Cohn, ich bin Heilpraktiker. Ja, auf Wiederhören. Und wieder ist mein Tag unterbrochen, wieder ist meine Arbeit unterbrochen, wieder stehe ich in meiner Wohnung und weiß nicht, wo ich war. Ich wünsche ihnen allen Hirnkrebs an den Hals, auf daß sie sich ihr informiertes Wasser innerhalb wissenschaftlicher Studien zu Testzwecken mal selbst ins Ohr spritzen können, wahlweise an ihren von gesegneten Händen zusammengepanschten Natursäften ersticken, der halbe Liter zu hundert Euro. Und der Herr mit seinen christlichen Streifbandzeitungen steckt sie sich bitte auch in den Arsch. Ich bin kein Atheist, der missioniert werden muß. Ich bin überhaupt kein Atheist. Ich glaube, und wenn Sie mein Blog gelesen hätten, wüßten Sie das, nicht allein nicht an die Existenz eines Gottes in, über oder jenseits dieser Welt, ich glaube oft nicht einmal an diese Welt. Das verstehen Sie nicht? Ja, sehen Sie, ich Ihren Quark ja auch nicht.