Einundzwanzig
21.10. 2011 14:00
Zwei Tage nach der OP erster Spaziergang zum nahen Plötzensee, fast einmal rum. Keine große körperliche Schwäche, seelisch auch nicht. Das MRT zeigt keinen leuchtenden Saum, alles erwischt, was sichtbar war.
22. 10. 2011 12:00
Aufenthaltsraum der Neurochirurgie, Korrektur der Korrekturen. Marcus praktisch allein, ich ohne Überblick.
23.10. 2011 16:00
Rudern auf dem See mit Freunden. Leider kann man mit den morschen Riemen nicht durchziehen. Aber schön ist der Dunst am Ufer am Abend.
24.10. 2011 7.12
Traum: Arbeit am Roman in einer Jahrhundertwende-Villa an der Ostsee. C., Lektor, Cornelius, alle da. Kurz vor Sonnenaufgang sehe ich eine Reihe nackter alter Männer und Frauen durch ein Tor hinter der Villa zum Strand hinuntergehen und im eiskalten Wasser baden. Sofort laufe ich zu meinen Freunden. Zwischen grauen Sandburgen stehen sie am Strand, trinken und feiern, in Gespräche versunken. Ein DJ legt auf.
Baden, rufe ich, man kann baden! Da taucht neben mir ein ganz in Schwarz, fast wie ein Schornsteinfeger gekleideter, hagerer Mann auf. Neben ihm sein kleiner, schweinsgesichtiger Sohn, genauso gekleidet. Beide strecken mir eine Hand entgegen. Wir kommen, Sie zu holen, sagen sie.
Die Plötzlichkeit ihres Auftauchens überrascht mich – nicht der Zeitpunkt, allein die Plötzlichkeit – und während ich noch überlege, ob aus der Formulierung des Holen-Kommens nicht auch ein Irgendwo-Hinbringen folgen müsse, im schlimmsten Fall in ein von mir immer abgestrittenes Jenseits, versuche ich, meine letzte große Erkenntnis in die Welt hinauszuschreien: „Zwei Schwarze, und sie kommen, und sie …“ Aber meine Stimme ist schon auf stumm geschaltet. Noch stehe ich zwischen meinen Freunden, aber sie hören mich nicht mehr, ich bin für immer verschwunden im Dunkel.
In genau diesem Moment unterbricht die Morgenvisite den Alptraum. Die Fragen nach meinem Befinden kann ich nur stammelnd beantworten, der Stationsarzt fragt die Schwester: Ging es ihm sonst denn gut?
24.10. 2011 15:00
Gespräch mit der Study Nurse, Möglichkeiten der Weiterbehandlung. Man bevorzugt Celebrex in Verbindung mit niedrig dosiertem Temodal, metronomisches Schema. Ich sehe die Urlaubsbräune auf ihrem Knie und denke: Ich will noch mal ans Meer.
24.10. 2011 17:10
Dann mit dem Rad zu C. Das Davonstehlen aus dem Krankenhaus hier etwas einfacher als im Friedrichshain.
Der Alptraum vom Morgen hängt mir immer noch nach. Ich erzähle ihn C., vermutlich der einzige Mensch, der weiß, was in mir vorgeht; Natascha vielleicht auch. Und, wenn ich das richtig gelesen habe in ihrem Gesicht, die Study Nurse. Berufserfahrung.
25.10. 2011 13:30
Strahlentherapeut Dr. Badakhshi, der wirkt, als ob er Studien zum Frühstück ißt, möchte mir stereotaktisch weitere 50 Gray zu den 60 Gray vom letzten Jahr noch hinzustrahlen in dreizehn Portionen à 3,8 Gray. Nicht großflächig diesmal, sondern mit einem Saum weniger Millimeter um das entfernte Rezidiv herum. Empfehle wegen Nebenwirkungen kaum einer, nur zwei Stellen in Deutschland, er sei eine davon. Nekrosen: klar. Aber Nekrosen sind für Muschis, so Badakhshi sinngemäß. Auf ein paar Millimeter mehr oder weniger komme es bei einem Hirn wie meinem jetzt auch nicht mehr an.
Ein Arzt, der offenbar gern bestrahlt. Und da ich ein Patient bin, der gern bestrahlt wird, sind wir uns rasch einig. Außerdem neigt er zum Temodal-one-week-on-one-week-off-Schema wie mein Onkologe auch.
25.10. 2011 19:00
Besuch Joachim.
26.10. 2011 16:24
Entlassung. Sage, daß mich jemand abholt und fahre mit dem Fahrrad nach Hause. Brötchen kaufen, Postkasten leeren.
Als Folge der OP scheint sich mein Sichtfeld noch einmal verkleinert oder verändert zu haben. Dort, wo vorher nichts war, ist jetzt wieder etwas. Etwas Falsches allerdings. Persistierende Bilder, teilweise von der Gegenseite rübergespiegelt. Mal sieht es aus wie eine Wasserpfütze, die neben mir dahingleitet, dann wieder, als könne ich durch den Boden ins Untergeschoß sehen. Und von X-Ray-Man zu Moron Man ist es nur ein winziger Schritt. Einmal stehe ich an der Ampel, und auf der anderen Straßenseite, perspektivisch verkleinert, eine Frau. Im nächsten Moment ist sie lebensgroß an meiner Seite, und als ich loslaufe, geht sie fünf, sechs Schritte neben mir her. Mit der linken Hand wedle ich die Gespenster weg.
Vorteil Berlin: Auf der Torstraße bin ich unter den Gestörten nur Mittelfeld.
26.10. 2011 16:59
Aus juristischen Gründen steht im Impressum meines Blogs meine Postadresse mit dem Zusatz „Keine Anfragen“. Keine Anfragen, für alle, die Schwierigkeiten haben, das zu verstehen, bedeutet: Keine Anfragen.
Wenn Sie sich von mir Antworten auf Fragen erhoffen, schreiben Sie mir nicht. Ich habe keine Zeit. Wenn Sie sich für den einzig richtigen Regisseur für die Verfilmung von Tschick halten, wenn Sie sich beschweren wollen, daß ich auf Ihren letzten Brief nicht reagiert habe, wenn Sie mir (es geht um Leben und Tod) das abermalige gründliche Studium Ihrer Website anraten, welche empfiehlt, getrocknete Apfelsinenkerne zu essen, mein Handy gegen ein Festnetztelefon auszutauschen, Energiesparlampen in Kopfnähe auszuweichen: Schreiben Sie mir nicht. Wenn Sie durch Ryke Geerd Hamer, grünen Tee und Himbeeren geheilt geworden sind, wenn Sie einen frankierten Briefumschlag beilegen wollen, wenn Sie Jesus oder achtundzwanzig andere namenlos bleiben müssende Exzellenzheiler kennen und schätzen gelernt haben: Freuen Sie sich an Ihrem Glück. Ich freue mich mit Ihnen. Aber schreiben Sie nicht. Und wenn Sie einem einstündigen Beitrag des Qualitätssenders ARD zur besten Sendezeit entnommen haben, daß Handauflegen nun kraniosakrale Therapie heißt und von Schulmedizinern erfolgreich gegen Hirnkrebs eingesetzt wird: Verlangen Sie Ihre GEZ-Gebühren zurück. Aber schreiben Sie nicht. Und schreiben Sie mir vor allem nicht, wenn Sie irre sind.
Sie sind irre, wenn Sie vor 1993 geboren sind und der Brief, den Sie mir schicken wollen, mehr als zwei DIN-A4-Seiten umfaßt. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent. (Das traurige, fehlende Prozent ist ein Strafgefangener – Spanien, Drogen, 9 Jahre – der mir auf Grund einer Verwechslung schreibt. Grüße und viel Glück an dieser Stelle, aber ich war nie in Spanien.) Aber alle anderen Mentalhypnotiseure, Naturkostler, Homöopathen und Kokovoristen: Sparen Sie sich die Mühe. Um mir klarzumachen, daß Sie mein Blog nicht gelesen haben, gibt es subtilere Methoden, das mitzuteilen: Durch Schweigen zum Beispiel. Und wenn Sie mit dem Begriff „irre“ hingegen nichts anfangen können, kann ich es für Sie auch noch einmal blumiger ausdrücken: ICD-10, F70-79. Persönliche Kennzahl suchen Sie sich. Danke für die Aufmerksamkeit.
26.10. 2011 17:30
Und jetzt keine Mißverständnisse, bitte: Ich bekomme gerne Post. Mehr als neun Zehntel meiner Post kommt von Nichtirren. Freundliche Grüße aus Südamerika, Hongkong und Marzahn-Hellersdorf. Ein Familienfoto mit Rollstuhl in der Mitte, eine Einladung aus der Deutschen Botschaft in Kigali („wenn Sie mal Urlaub in Ruanda machen“), ein Brief aus dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt – freut mich alles wahnsinnig. Hat mich wahnsinnig gefreut. Nur daß mir leider auch hier die Zeit zum Antworten fehlt. Danke nochmal.
26.10. 2011 19:45
Melancholia, zehn von zehn Punkten. Und noch einen Zusatzpunkt fürs Happy End: Groß und grün und strahlend. So ist das, genauso. Noch nie so erlebte Übereinstimmung zwischen filmischer und subjektiver Realität. Urteil deshalb möglicherweise getrübt.
Aber einmal mit Charlotte Gainsbourg auf einer Terrasse sitzen, über kegelförmig geschnittene Bäume aufs Meer schauen und frühstücken. Oder noch besser stehen. Richtig Gainsbourg ist Gainsbourg ja erst, wenn sie steht.
28.10. 2011 14:03
Natasha Little singt Purcell.
29.10. 2011 16:00
Sonnenschein, Plötzensee, Stendhal. Drei oder vier Mal weht der Hauch mich an, die ersten Male kann ich ihn niederkämpfen, dann, während ich mit Julia im Restaurant sitze, Anfall. Auslöser die Musik im Hintergrund, Reggae, Textschleife.
Meine Haltung zerbröselt.
Aura, Aurora, wußte ich gar nicht, daß das zusammenhängt. Die Göttin der Morgenbrise, der Hauch, der Windhauch.
Schwer zu beschreiben. Hauch ist schon nicht ganz falsch, ein Windhauch im sich zusammenkrampfenden Gehirn.
Am schlimmsten der Hall auf der Stimme, die sich selbst reproduzierenden Textbausteine, die ich für meine Gedanken zu halten geneigt bin.
Weht der Wind zu lange, folgen Depersonalisation und Derealisation, dann schwindet alles dahin. Kein Ich, kein Ding, kein Gefühl. Was nicht anstrengend ist. Anstrengend ist das anschließende sich Wiedermaterialisierenmüssen, der graue Geschmack der Baumwipfel am Abend.
Seit zwei Wochen suche ich nach besseren Worten, vergeblich. Vielleicht, weil im zu beschreibenden Moment kein Beschreiber mit dabei ist.
Man steht am Eingang zur Hölle, sieht Feuer und Flammen, spürt keine Wärme und kratzt sich am Kopf.
Sehr korrekte und umfassende Schilderung der Symptome auf Wikipedia.
29.10. 2011 16:22
Dabei erstes klares Gefühl von Ich-Verlust in diesem Blog ja schon im Mai 2010, über ein Jahr vor dem ersten Anfall. Damals, wenn ich das richtig erinnere, noch eine Frucht angestrengten Nachdenkens.
Und noch früher: Beim Exorzismus mit Cornelius, als die Personalpronomen „ich“ und „mich“ um keinen Preis aufs Papier wollten.
30.10. 2011 11:40
Interviewanfrage eines Journalisten, der einen Bericht vom Tod seiner Schwester anfügt. Lese ihn mit großen Unterbrechungen. Zum ersten Mal ein Eindruck davon, was das hier für eine Zumutung für meine Angehörigen und Freunde darstellen muß. Lange darüber nachgedacht, das Blog abzustellen. C. schüttelt den Kopf.
31.10. 2011 6:50
Der Windhauch treibt mich schon vor Praxisöffnung zum Neurologen. Als ich nicht mal mehr das Wort Depersonalisation aussprechen kann, schiebt er mir eine Packung Kleenex rüber. Nächster Versuch:
Frisium 10 1-1-1
Keppra 1500 1-0-1
Lamotrigin 25 0-0-1
Neben einer langen Liste üblicher Nebenwirkungen listet Lamotrigin die originelle Aussicht auf Tod durchs Lyell-Syndrom auf.
31.10. 11:15
In der Revisionsfassung hat ein externer Korrigierer an absolut entscheidender Stelle „Sieben“ statt „Siebzehn“ in den Text eingetragen, Primzahlenzerlegung. Lektor angerufen: Nicht da. Verlag angerufen: Druckmaschinen laufen seit heute morgen. Zusammenbruch.
Fünf Minuten später Rückruf, ein zweiter Externer habe es noch bemerkt und die Zahl in letzter Sekunde in die Siebzehn zurückverwandelt.
4.11. 2011 15:45
Zwei Tage ohne Anfall, ohne Aura. Ob die neue Sicherheit in dieser Welt medikamenteninduziert oder nur eingebildet ist, egal. Neue randomisierte placebokontrollierte Studien scheinen die Wirkung des Lamotrigins bei Depersonalisation nicht zu bestätigen.
Heute morgen den nächsten Roman begonnen, Arbeitstitel: Mercer 5083. Science Fiction. Material gesichtet und zusammengekloppt, 55.000 Zeichen. Noch mal so viel, und es geht vielleicht als Novelle durch. Passig, der ich das Projekt vor zwei Jahren schon einmal gezeigt hatte, nannte es „reine Scheiße“ und nennt es noch heute so.
„Roadmovies nie verstanden, spätestens nach drei Kapiteln weiß man, da kommt nichts mehr“ war ihr Urteil zu den Plüschgewittern. „Warum schreibst du sowas?“ zum Van-Allen-Gürtel, „auch nicht schlimmer als Plüschgewitter“ zu Tschick. Und zu Sand: „Der Mittelteil ist Mist, dann wird es ganz gut.“
Und jetzt also reine Scheiße, das sind selbst für Passig harsche Worte.
Aber irgendwas muß ich ja machen. Ich kann hier nicht rumsitzen. Noch zwölf rezidivfreie Wochen, und das Ding könnte fertig sein.
4.11. 2011 20:00
Zum ersten Mal wieder Fußball in der Halle in Marzahn.
6.11. 2011 20:00
Grizzly Man von Herzog. Wie Herzog der Frau am Ende rät, die Kassette mit den Schreien der von Bären gefressen werdenden Treadwell und Huguenard zu verbrennen: „Das dürfen Sie sich niemals anhören.“ Kein Bild, kein Ton, nur der Gerichtsmediziner, der erklärt, was seiner Meinung nach auf dem Band zu hören gewesen war. Der Mann, der die Frau bittet, wenigstens sich selbst zu retten, das Gebrüll, und wie die Frau dem Bären, der Treadwill zerfetzt, mit der Bratpfanne auf den Kopf haut. Völlig wahnsinniger Film.
Als ich noch in Nürnberg studierte, hörte ich einmal in der Nacht einen Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Ich öffnete das Fenster und lauschte in Dunkelheit und Stille. Jemand, der es auch gehört hatte, rief die Polizei. Uniformierte stiegen in den Park hinunter, fanden aber nichts. In der Zeitung am nächsten Tag stand auch nichts. Nie wieder etwas Vergleichbares gehört; aber daß man einen bestimmten Schrei tatsächlich nicht mit den Ohren, sondern mit den Knochen hört, wußte ich bis da auch noch nicht. Mark und Bein.
8.11. 2011 13:30
Erste von dreizehn Bestrahlungen à 3,8 Gray. Dreiteilige Maske, die den Kopf fixiert, zuletzt ein weißes Netz, das die Nase plattdrückt und das Öffnen der Augen verunmöglicht. Millimetergenau festgeschnallt auf einem per Fernbedienung herum geschwenkt werdenden Metalltisch. Trügen die Assistentinnen noch kleine Lederpeitschen, wäre man rechtschaffen verwirrt.
Im Gegensatz zum Clinac 3 macht Novalis nur unspektakuläre Geräusche. Woher das Gerät seinen Namen hat, kann mir keiner sagen. So bahnbrechend waren Novalis‘ naturwissenschafliche Entdeckungen dann ja auch wieder nicht. Etymologie, de novali, die Neuland roden? So kann man den Vorgang im Hirn da natürlich auch nennen.
Die von den Strahlen in freie Radikale gespaltenen Wassermoleküle zerschneiden die DNS in den Zellen, wodurch weitere Teilung verhindert wird. Da gesunde Hirnzellen sich beim Erwachsenen ohnehin nicht teilen, egal. Nur die Krebszellen, nicht wahr.
8.11. 2011 15:45
Zweimal mit den Tagesthemen telefoniert. Nach meinen schlechten Erfahrungen zuletzt verlange ich eine Zusicherung, daß sich das Interview ausschließlich um Literatur drehen wird. Kein Problem. Das ist man mir auf Anfrage sogar schriftlich zu geben bereit. Und kein Schnittmaterial, ich fahre keine Rolltreppen rauf und runter: Auch kein Problem. Nur ein Studio, zwei Sessel, der Interviewer und Sie – und man darf mich für naiv oder vollkommen verblödet halten, aber erst in diesem Moment wird mir klar, worauf das hinausläuft. Denn selbstverständlich wird es ein Voice-over geben, und daß da kein klagenfurtporträtähnlicher Unfug wie „armer Hirnkranker schreibt sein letztes ergreifendes Buch“ herauskommt, kann und will man mir nicht garantieren. Weder schriftlich noch sonstwie. Zweimal fällt der Satz, man sei ein hochseriöser Sender, ein Qualitätsmedium, Herr Herrndorf, Sie kennen uns, wo kommen wir denn hin, wenn der Betroffene jetzt den Beitrag über sich selbst rückkontrolliert? Sowas hat man ja in hundert Jahren Öffentlich-Rechtlichem noch nicht gesehen! Stellen Sie sich vor, ein Politiker würde –
Ja, der hat aber auch ein Anliegen.
Sie haben auch ein Anliegen, Sie wollen Bücher verkaufen.
Ja. Nein. Jedenfalls nicht so dringend, daß ich dafür die hier diskret und offenbar für die meisten Journalisten zu diskret gezogene Grenze zwischen Blog und Marketing plattmachen würde. Danke und auf Wiederhören.
Überflüssig zu erwähnen, daß in der Qualitätsredaktion bis jetzt noch keiner das Buch bis zum Ende gelesen hat.
Wieder zwei Stunden Lebenszeit sinnlos vertan. Jetzt ist endgültig Schluß. Dann doch lieber gleich RTL Explosiv, die müssen sich wenigstens nicht den ganzen Tag vormachen, einem vor Jahrzehnten schon in die Tonne gekloppten Rundfunkauftrag zu genügen.
Und jetzt Werbung.
9.11. 2011 10:39
Erstmals im Auge des Drehkopfs der Maschine das in der Bleiabschirmung von beweglichen Lamellen gebildete Loch gesehen, in dem ich die mir vom MRT genau bekannte Form meines Rezidivs erkenne.
Während die Kanone um den Kopf herumwandert, höre ich, formen die Bleilamellen den zum dreidimensionalen Rezidivgebilde immer genau passenden Umriß, plus eines Sicherheitssaumes von einigen Millimetern, Abweichung maximal 0,7 Millimeter. Alles erfunden und konstruiert von einem Tier, das vor noch nicht langer Zeit damit beschäftigt war, Neandertalern mit Keulen die Schädel zu zertrümmern.
9.11. 2011 11:30
Hinter dem Hochnebel die Sonne, eher ein Mond. Ausreichend kalt, meine Lieblingsbank auf dem Invalidenfriedhof unbesetzt zu finden. Einige Laubzusammenharker, einige Tote, ein Polizeiboot, das den Kanal hinunterfährt.
10.11. 2011 14:38
„Mir fiel dazu ein: Die Medien sind der Stammtisch der Nation. Zu dem Atheisten fiel mir ein: Er hat keine Ahnung. Wer sagt, es gebe Gott nicht und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“ Walser in der FAZ. Ich weiß nicht, warum der Mann mich immer so strapaziert. Nie ein Buch von ihm gelesen, aber jedes Interview eine Riesenstrapaze: „Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ‚bekennenden‘, höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“
Über Gräber vorwärts! ruft von Seeckt von hinten mit einer Handvoll Dreck im Mund, und statt der siebenjährigen Elisabeth von Kottulinsky (1767–1774), die sich selbst nicht äußern will, spricht der Stein: Ein Kind guter Hoffnung, ihre Seele gefiel Gott wohl, darum eilte er mit ihr aus diesem bösen Leben, und versetzte sie frühzeitig, in die ewige Freude, und Seeligkeit.
C. sucht immer noch und immer wieder nach einer Wohnung für mich. Fünfter Stock, hell, Laminat, 2 bis 3 Zimmer, Dachterrasse. Toll, wenn man plötzlich Geld hat. Und deprimierend, was soll ich mit einer Terrasse? Es kommt kein Sommer mehr. Dazu die Formalitäten, der Bürokratiequatsch, die verlorenen Tage. Hier in meinem Hinterhofloch weiß ich wenigstens, wo alles ist. Sogar die Dusche funktioniert jetzt.
12.11. 2011 20:05
Daß die Kunst, Rezensionen ohne Inhaltsangabe zu schreiben, so gut wie ausgestorben ist, daß alle Plot points mehr oder weniger kleinkariert der Reihe nach aufgelistet werden müssen – geschenkt. Aber daß es jemand schafft, den MacGuffin im ersten Satz zu verraten, Wahnsinn. Im ersten Satz. Hut ab. Respekt.
Auf der letzten Buchmesse, auf der ich war, kam ein Radio in Form zweier Frauen auf mich zu. Ihr erster Satz war, sie hätten das Buch nicht gelesen, und ihr zweiter, ob ich für die Hörer eine kurze Inhaltsangabe einsprechen könne. Als ich erklärte, Inhalt habe mich nie interessiert, guckten sie, als hätte ich versucht, ihr Auto mit Wasser zu betanken.
„Fatalerweise hat sich das Feuilleton dieser Form – nennen wir es besser Literaturbesprechung, denn Literaturkritik findet ja kaum noch statt – stilistisch und personell weitgehend angepasst. Man hat sich in den Redaktionen für eine Inflation von Starporträts in farbigen Bildern, eine Deflation von Kritik und die Renaissance des Adjektivs entschieden. Man schreibt nicht ausgehend von Problemstellungen, sondern von Themen und Persönlichkeiten oder ganz schlicht den eigenen Befindlichkeiten. Wichtig sind das Leben, die Individualität oder Geschichte eines Künstlers oder Genres. Das führt zu einem motivierten und intimen Verhältnis zwischen dem Schreibenden und dem von ihm Beschriebenen. Die Titelgeschichten handeln nicht mehr von den Konstruktionen der Literatur, sondern von Fame- und Fangeschichten. Der Journalist trifft den Autor, Künstler oder Schauspieler. Das ist schon der ganze Text. Den Anekdoten fügt man eigene Anekdoten hinzu. Meet & Greet. Oft hat man den Eindruck, dass der Wille zum Interview die festangestellten oder freien Fragesteller so sehr beherrscht, dass sie ganz vergessen haben, was sie eigentlich fragen wollten.“ (Harun Maye)
13.11. 2011 17:15
Cronenberg, A dangerous method. Jung, Freud, Spielrein. Hingerissen von den Bildern, Jungs zunehmendem Schwachsinn, Freude an meiner eigenen gedankenlosen Konsumentenhaltung. Und schon wieder Viggo Mortensen nicht erkannt. Nach Herr der Ringe und Eastern Promises der dritte Film, wo Lars mir hinterher erklären muß, wo Mortensen war.
17.11. 2011 17:00
Halt auf freier Strecke von Dresen, Geschichte eines Mannes mit Hirntumor, die mich, wie ich dachte, nachdem ich den Trailer gesehen hatte, kaltlassen würde. Zu weit ab vom eigenen Erleben.
Der Film beginnt mit einem Fehler: Mit nichts weiter als dem MRT in der Hand diagnostiziert der Arzt ein Glioblastom. Aber dramaturgisch natürlich völlig richtig: Denn sofort ist man drin, in der Hölle.
Lars, Marek und Julia neben mir, Cola und Snickers in den Händen, und dann erscheint auf der Leinwand der Wartesaal mit den roten Metallsitzen, auf denen ich wenige Stunden zuvor selbst noch gesessen und gewartet habe. Virchow-Klinikum, Südring 5, Untergeschoß. Die Ärzte sind Ärzte, die Schwestern sind Schwestern. Novalis dreht sich um Milan Peschels Kopf herum, und dann einmal ganz unter dem Metalltisch hindurch. Interessant. Kriegt man unter der Maske gar nicht mit.
Schlimmste Stelle: Der Besuch der Eltern direkt nach der Diagnose. Um Normalität bemüht, nehmen sie auf dem Sofa Platz und schildern die Herfahrt im Auto, eine ihnen den Weg versperrende Baustelle, die Schwierigkeiten, um die Baustelle herumzufahren, die glücklicherweise ausgezeichneten Autofahrfähigkeiten des Vaters usw. usf.
Ich habe es bisher immer vermeiden können, meinem Gegenüber mitten im Gespräch den Rücken zuzuwenden und schreiend wegzulaufen oder ihm ins Gesicht zu schlagen, aber daß das auch in Zukunft so bleibt, kann ich nicht garantieren. Ich sterbe, und du erzählst mir ungefragt deinen ganzen nicht enden wollenden, langweiligen Lebenslauf, Mädchen auf irgendeiner Party.
Ein Bekannter, der den Befund kennt, spaziert zur Tür herein und erklärt, was für riesige Fortschritte die Medizin in den letzten Jahren gemacht hat, Schwester, Brustkrebs, was die jetzt schon alles können, wirklich erstaunlich, das wird schon wieder. Und dann gute Besserung.
Ja, dir auch.
Und keiner stellt eine Frage. Keiner von diesen Herumschwallern stellt eine einzige Frage.
Janko, den ich kaum kenne, der beide Eltern durch Krebs verloren hat, kommt jedesmal beim Fußball auf mich zu und fragt, wie’s mir geht. Und dann sage ich, gut geht es mir, weiter nichts, und das ist eine solche soziale Wohltat, einfach die Meldung, daß er weiß, was da ist, daß da was ist, und daß ich weiß, daß er es weiß, mehr braucht es gar nicht.
„Das Gute an diesem Film ist, dass er so scheiße ist, dass er einen überhaupt gar nicht erst berührt“ schreibt ein Rüdiger Suchsland in der FAZ. Vielleicht auch mal das Hirn untersuchen.
Man kann sich, wie gesagt, allerdings auch Melancholia angucken, und nähert sich dem, was Dresen objektiviert, dann von der anderen Seite.
19.11. 2011 15:13
„Ein herrlicher Ball!“ sagte er zum Grafen. „Nichts fehlt hier.“
„Es fehlt der Sinn“, gab Altamira zur Antwort.
19.11. 2011 23:51
Mit Kathrin in Cheyenne, guter Film, dann trauriges Gespräch über unsere Urlaube in Fuerteventura und Sizilien, die ich so toll fand und sie, wie sich jetzt herausstellt, scheiße. Oder mein Verhalten, meine Asozialität in der zwanghaften Arbeitsfixierung, das Gestöhne vor dem Rechner den ganzen Tag und mein von mir selbst offenbar nicht bemerktes Desinteresse an allen anderen. Aber haben alle anderen nicht auch den ganzen Tag in ihre Rechner geschaut? Versucht, Klarheit über Mail zu bekommen, wie immer gescheitert.