Zwölf
25.12. 2010 10:03
Lektüre: Nabokovs Autobiographie. Bis auf drei, vier starke Stellen enttäuschend. Immer großer Anhänger seiner Arroganz gewesen, aber die Eitelkeit hier unerträglich. Auch keine gute Idee, die erlebten Katastrophen des 20. Jahrhunderts unter herablassend heiteren Landschaftsbeschreibungen zu begrünen und zu begraben. Wahnsinnig unsympathisch alles. Ich wünschte, ich hätte das nicht gelesen.
Gut: Der Anfang mit den beiden Dunkelheiten. Das Mädchen, das sich von ihm auf der Straße nicht erkannt glaubt. Das erste Gedicht.
25.12. 2010 14:04
Meine Mutter erzählt, ich sei mit vier Jahren Zeuge der Mondlandung gewesen. Wußte ich nicht. Kann mich nicht erinnern. Auf meinen Wunsch hin habe man mich nachts aus dem Bett geholt, 21. Juli 1969, 3:56 Uhr.
Deutliche Erinnerung dagegen an das andere große, nächtliche Aufstehen meiner Kindheit: Muhammad Ali vs. Antonio Inoku. Im Haus meiner Urgroßmutter auf Helgoland. Sie war über neunzig und schaute sich den ganzen ermüdenden Kampf ebenfalls an. Irgendwann mußte der Kampfrichter kommen und Isolierband über Inokus Stiefelspitzen kleben, das beim Herumtreten immer wieder abging.
27.12. 2010 20:00
Fußball mit meinem Vater und seiner Gruppe, die seit knapp 50 Jahren zusammenspielt. Der Hausmeister hat in den Ferien die Schlösser an der Halle getauscht, und ein Dutzend 70jähriger steigt hinten über den Zaun und marschiert durch den halben Meter tiefen Schnee auf dem Sportplatz zum Hintereingang, um mit der Begeisterung (und teilweise auch den Fähigkeiten) von Fünfjährigen eine Stunde zu kicken. So hatte ich mir mein Alter auch immer vorgestellt.
2.1. 2011, 8:50
Traum: Ein Alleinunterhalter auf der Hammond-Orgel spielt Schuberts Am Brunnen vor dem Tore und gleitet in ein Medley entsetzlicher Schlager über. Im Halbschlaf keine Schwierigkeiten, in dem Traum das Verlöschen meiner geistigen Energie zu erkennen. Schon einige Wochen praktisch nicht mehr richtig gearbeitet, Übergang in den alten Stumpfsinn.
6.1. 2011 11:50
Fünfzig Meter durchgekrault und dabei fast abgesoffen. Irgendwas mache ich falsch. Ich bin zwar nicht ganz von der steinernen Konsistenz meines Vaters, der, wenn er die Luft ausatmet, innerhalb von Sekunden zum Grund sinkt, aber die ideale Wasserlage hab ich, glaube ich, auch nicht.
6.1. 2011 20:26
Mit der Diagnose leben geht, Leben ohne Hoffnung nicht. Am Anfang konnte ich mir immer sagen: Ein Jahr hast du mindestens noch. Ein Jahr ist eine lange Zeit. Auch wenn ich den körperlichen und geistigen Verfall, der von den avisierten 17 Monaten noch abgehen sollte, dabei ausblenden mußte. Aber nachdem der größere Teil der statistisch erwartbaren Zeit vorüber ist, ist der Blick auf den schwindenden Rest immer beunruhigener. Obwohl ich mich (private Milchmädchenrechnung) nach zehn Monaten ohne Rezidiv bereits auf die rechte Seite der Glockenkurve durchgeschlagen zu haben glaube. Aber die Tage schwinden dahin, und mit ihnen die Hoffnung. Das Arbeiten wird immer schwerer. Die letzten Wochen krampfhaft Kapitel zusammengeschraubt, das Gefühl der Sinnlosigkeit überrennt mich.
Deshalb jetzt noch mal das in Deutschland nicht zugelassene Avastin gegoogelt, das mit Sonderantrag bei der Krankenkasse bei rezidivierendem Glioblastom zum Einsatz kommt. Eine komplette Remission des Tumors gelingt Avastin bei 1,2 Prozent, zusammen mit Irinotecan bei 2,4 Prozent. 2,4 Prozent! Wußte ich gar nicht. Das ist jedenfalls nicht null.
Weitergegoogelt: Bei über neunzig Prozent der Glioblastome, lese ich, kommt es zum Rezidiv, bei weit über neunzig Prozent. Was soll das denn jetzt heißen? Ich war immer von hundert ausgegangen. Keine Statistik zeigt Überlebende; aber es endet jede Statistik zum Glioblastom sowieso bei 5 Jahren, dann haben sich ausreichend viele verabschiedet, und für die sich im horizontnahen Nebel der x-Achse verlierende Kurve interessiert sich die Medizin nicht mehr so. Aber es sind nicht null. Es sind anscheinend nicht null. Wobei den meisten Fällen von Langzeitüberlebenden offensichtlich eine falsche Histologie zugrundeliegt.
9.1. 2011 10:44
Traum: Gartenparty bei Holm. Liege neben dem Rasensprenger und höre den Gesprächen zu. B. kritisiert Tschick, insbesondere die Episode mit der Großfamilie, die erkennbar in „Kringeldorf“ spiele, wo die Straßen bekanntlich überfüllt seien von Ärzten. Warum hätte ich das verschwiegen? Stattdessen beschriebe ich Warnemünde. Er findet das Buch scheiße, er findet auch den Autor scheiße, und im Halbschlaf höre ich ihn reden und freue mich wie ein kleines Kind. Dann krieche ich auf allen vieren unter dem Rasensprenger herum.
Tom Lubbock gestorben, 28 Monate nach seinem ersten Anfall. Einer seiner letzten Texte beschäftigt sich mit der kleinen gelben Mauerecke auf Vermeers Ansicht von Delft. Darüber hab ich vor rund zehn Jahren auch mal geschrieben.
11.1. 2011 12:43
Lektüre: Duves Vegetarier-Buch. Hatte mich vor einem Jahr beim Lesen von Consider the Lobster schon mal zu keiner rechten Meinung durchringen können.
Was ich an Foster Wallaces Argumentation nicht nachvollziehen kann, ist, wie man der Frage, ob und wieviel Schmerzen im Hummer beim Tötungsvorgang auftreten und auf welche Arten diese Schmerzen minimiert werden können, soviel Aufmerksamkeit widmen kann, daß die Frage nach der Tötung darin untergeht. Artgerechte Haltung und humanes Sterben – ich meine, natürlich sind Schmerzen nicht toll, und die seitenlange Untersuchung, woran man Schmerzempfinden in einem nicht sprechen könnenden Lebewesen erkennt, epistemologisch sehr interessant. Aber angesichts der endgültigen Auslöschung der Existenz scheint die Frage des außerdem damit verbundenen Schmerzes etwa so zweitrangig wie, sagen wir, die Frage, ob man bei der Folter dem Menschen einen Fuß abschneiden darf, was die Rückkehr in ein späteres Leben für immer auf unerträgliche Weise behindern und unnötig erschweren würde, während Waterboarding, da es keine solchen Folgen hat … etc.
Inkonsequenterweise bin ich kein Vegetarier. Unter anderen Umständen würde ich mich jetzt vielleicht umstellen. Aber meine Ernährungssituation ist desolat. Immer gewesen. Haribo, Konservendosen, ein bißchen Obst. Als ich nach Berlin kam, war meine größte Befürchtung, ich müßte verhungern, und mein erster Impuls, eine Wohnung in Mensanähe zu suchen.
Ich wünschte, der Staat würde diesen ganzen Mist einfach verbieten und mir so die Entscheidung abnehmen. Was mir selbst sehr befremdlich vorkommt. Ich habe für mein Leben nie Gesetze gebraucht.
11.1. 2011 12:58
Seit geraumer Zeit schon läuft meine Empathie auf seltsamer Spur. Früher irgendwann hatte ich mir mal vorgestellt, der nahe Tod würde möglicherweise Haß auslösen, Haß auf die Welt, Neid auf die Überlebenden, vielleicht sogar den Wunsch, noch einmal Amok zu laufen und möglichst viele mitzunehmen. Tatsächlich hatte ich mal einen Text in diesem Sinne angefangen. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Ich kann kein Käferlein mehr im Hausflur entdecken, ohne es auf den Finger zu nehmen und draußen auf einen Grashalm zu setzen.
Zur gleichen Zeit durchströmt mich diffuses Glücksgefühl, wenn eine Boulevardschlagzeile den Tod eines im Eis ertrunkenen Zweijährigen vermeldet. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir einfällt, wie schlimm es für die Eltern ist. Aber für das Kind ist es das Beste.
Den oft und vermutlich zurecht kritisierten Satz, das Leben sei der Güter höchstes nicht, ich würde ihn jetzt unterschreiben. Was ist das größte Glück? Bewußtlos sterben, und ein unauffällig in den Nacken gehaltenes Bolzenschußgerät entspricht diesem Glück sonderbarerweise genau.
Klingt alles irgendwie inkonsistent, auch für mich selbst, was offensichtlich daher rührt, daß ich von zwei Positionen aus argumentiere; aus alter Gewohnheit noch aus der Position des Lebenden, der mit wachsender Rührung jede Äußerung belebter Materie betrachtet; zugleich aus der Perspektive, die das Ganze im Blick hat und sich nichts sehnlicher wünscht, als zum Ende zu kommen. Tatsächlich spüre ich mehrmals am Tag meine Perspektive umschlagen, manchmal im Minutentakt, was sehr anstrengend ist. Synthese findet nicht statt.
Eine ganz andere Frage, die sich Krebskranke angeblich häufiger stellen, die Frage „Warum ich?“, ist mir dagegen noch nicht gekommen. Ohne gehässig sein zu wollen, vermute ich, daß diese Frage sich hauptsächlich Leuten aufdrängt, die, wenn sie Langzeitüberlebende werden, Yoga, grünen Tee, Gott und ihr Reiki dafür verantwortlich machen. Warum ich? Warum denn nicht ich? Willkommen in der biochemischen Lotterie.
14.1. 2011 9:46
Traum: Ich will mit Marek eine Fahrradtour zu meinen Eltern machen. Zu spät fällt mir ein, daß Marek viel schneller fährt als ich. Wir müssen uns trennen. Im Haus meiner Eltern angekommen, packt meine Mutter mir zusätzliche Sachen in den Rucksack, denn jetzt soll es weitergehen zu meiner Großmutter [die tot ist]. Riesige Badelaken, zwei Paar Schlittschuhe usw. Viel zu viel Gewicht. Als ich alles Überflüssige wieder ausgepackt habe, ist der Rucksack leer.
Ich wünschte, meine Träume würden wieder etwas kryptischer.
15.1. 2011 17:36
Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre.