Outtake: Tschick
Einmal sollten wir ein Gedicht schreiben. Da hatten wir monatelang Gedichte gelesen und analysiert, Goethe, Schiller, Hebbel, so die Richtung, und das sollte jetzt weitergehen mit modern. Nur daß modern keiner mehr verstand. Einer hieß Celan und ein anderer Bachmann, da hätte man Simultandolmetscher gebraucht.
„Lyrik ist die Sprache der Gefühle“, hat Kaltwasser uns immer wieder klargemacht, und wer das in seinen Aufsatz schrieb, hatte schon mal eine Drei sicher: Lyrik ist die Sprache der Gefühle. Nur daß einem das bei diesem Celan auch nicht weiterhalf, und das ganze Desaster endete damit, daß Kaltwasser fragte, wer denn schon mal selbst so was probiert hätte. Ein Gedicht schreiben. Keiner natürlich.
„Das ist nichts, wofür man sich schämen muß“, sagte Kaltwasser und wartete.
Zwei Mädchen meldeten sich, Natalie relativ schnell, und Marie erst, nachdem sie rot geworden war.
„Mehr nicht?“ fragte Kaltwasser, und dann meldete sich André. André Langin. Der schöne André. Hätt ich fast gekotzt. Und das Schlimmste war: Das brachte die Festung zum Einsturz. Nachdem André sich gemeldet hatte, meldete sich nach und nach fast die Hälfte der verblödeten Mädchen, die alle schon mal „naja, so was, was sich reimt“ gemacht hatten, und noch zwei Jungs. Einer davon der Nazi. Der meldete sich, wie er sich immer meldete: Ellenbogen auf den Tisch und dann schlapp irgendein Finger krumm in die Luft gehalten, gern auch der Mittelfinger. Und der wollte jetzt also auch schon mal ein Gedicht geschrieben haben. Ich war anscheinend fast der einzige, der noch nicht auf die Idee gekommen war. Wobei leider nicht geklärt wurde, wer denn da was genau produziert hatte.
Bei dem Nazi konnte man wahrscheinlich schon davon ausgehen, daß das eher nicht so „Frühling läßt sein blaues Band“ und so war. Wobei ich den Nazi nicht kannte. Keiner kannte den genauer. Vielleicht hatte er ja ein total gefühlsmäßiges Innenleben? Nur einmal hatte ich ihn außerhalb der Schule getroffen. In der S-Bahn, auf dem Weg ins Olympiastadion, zusammen mit hundert anderen grölenden Hertha-Spacken. Womit ich nicht sagen will, daß alle Herthaner Spacken sind. Ich bin früher auch mit meinem Vater ins Stadion gegangen. Aber die Ostkurve ist halt schon völlig verspackt, und das Komische ist, daß alle diese Hertha-Vollirren eine wahnsinnige Freude an Gedichten haben. In der S-Bahn den ganzen Weg zum Stadion immer: Sprechgesang, Jambus, Reimschema, alles. Nur daß der Inhalt eher nicht so goetheartig ist. Das geht schon immer mehr Richtung Türken, Auschwitz, Baseballschläger. Wir sind die Blauen, wir sind die Weißen, wir sind die, die auf die Schalker scheißen – und ich vermute, solche Gedichte wird der Nazi in seiner Freizeit dann wohl auch gedichtet haben. Womit er Kaltwassers Anforderung ja erfüllt gehabt hätte: Die Sprache der Gefühle. Aber, wie gesagt, nach Inhalt wurde nicht gefragt. Weil, Kaltwasser ging es jetzt um die Hausaufgabe, und die war, daß wir eben alle auch mal so was machen sollten. Wir wüßten ja jetzt, wie das geht, Kreuzreim, Dings, A-B-A-B. Und dann noch Stilmittel.
Aus irgendwelchen Gründen hatte ich die Hausaufgabe am nächsten Tag aber vergessen, und als Kaltwasser dann tatsächlich jeden einzelnen der Reihe nach aufgerufen hat, hab ich mich erstmal auf Toilette verabschiedet. Mit Zettel und Füller. Und da saß ich dann auf dem Klodeckel und dachte, hau ich halt schnell einen Vierzeiler zusammen. Was strategisch unklug war, weil ich auf die Weise ja das Gedicht von Tatjana verpaßte, und wenn mich eins auf der Welt interessierte, dann wie Tatjanas Sprache der Gefühle aussah. Wäre ich also besser in der Klasse sitzengeblieben und hätte einen Eintrag kassiert. Aber, wie gesagt, das fiel mir zu spät ein auf dem Klo. Und dann wußte ich auch nicht, was ich überhaupt schreiben sollte. Sprache der Gefühle. Ich hatte schon seit Monaten nur noch ein einziges Gefühl gehabt. Und so hab ich dann auch angefangen. Ich kann an gar nichts anderes denken, erste Zeile. Und schon bei Zeile zwei war ich mächtig am Schwimmen. Tatjana, param param, mein Herz, hier fehlt ein Wort, param, irgendwas mit schenken. Herz schenken. Geschenk schenken. Oh Mann.
Wenn man über Liebe und so was schreiben will, sollte man wahrscheinlich schon länger darüber nachdenken als fünf Minuten auf dem Schulklo. Hat Goethe bestimmt auch gemacht. Außerdem hatte ich nicht wirklich vor, ein Gedicht über Tatjana zu schreiben. Aber wenn nicht über Tatjana, worüber dann? Eins über mich? Über die Natur? Über das Klo? Türken? Auschwitz? Mir fiel nur Quark ein. Ich liebe dich, du blöde Sau, während ich ins Jungsklo schau. Nee, nee. Vielleicht doch besser harmlos machen die Sache – wie hieß das noch? Metaphorisch, genau. Einfach die Liebe weglassen und über die Landschaft reden. Und am Ende stellt sich raus, es ist gar keine Landschaft gemeint, sondern Frau von Stein. Der Winter kommt. Die Luft ist kalt. Ich hab kein Schal, Herr Rechtsanwalt. Nein.
Als ich in die Klasse zurückkam, hatten schon fast alle gelesen. Die Reihe war an meinem Platz längst vorbei, und nur die zwei hinteren Bänke kamen noch. Den größten Erfolg hatten Jungen, die die Worte Scheiße und Arsch in ihren Gedichten untergebracht hatten. Wobei Arsch das Schwierigste zu sein schien, quasi Königsdisziplin. Da spielte gleich in zwei Gedichten von der letzten Bank irgendein Fluß die Hauptrolle, damit nämlich ein Barsch in dem Fluß schwimmen konnte. Und was war das für eine Begeisterung am Ende, wenn das Reimwort kam! Nur Kaltwasser mochte es nicht so.
Die Stunde war fast um, und ich hoffte schon, nicht mehr dranzukommen. War aber leider nicht so. Kaltwasser setzte ein feines Lächeln auf, überblickte die ganze Klasse und sagte: „Unser Freund Maik Klingenberg. Dann lies doch mal vor, was du da in fünf Minuten über dem Urinal zusammengekritzelt hast. Wenn’s Versmaß stimmt, mach ich nicht mal einen Eintrag.“
Immer dieses Problem mit den Erwachsenen. Einerseits blicken sie’s oft nicht. Aber dann blicken Sie’s wieder. Kaltwasser blickte es meistens. Ich packte meinen Zettel aus und las. „Ich liebe dich -“
„Ich liebe dich? Was? Lauter!“ rief Kaltwasser.
„Ich liebe dich. Und ganz egal.
Der Winter kommt. Ein warmer Schal
Ist besser als ein kalter.
Ich bin zu häßlich für mein Alter.
Du bist zu schön. Und das vergeht.
Das ist nicht neu. Nichts bleibt, nichts steht.
Ein Lada steht im Parkverbot.
In hundert Jahren sind wir tot.“
„Soso. Wir können schon Ironie“, sagte Kaltwasser. „Na – das hätte Goethe in fünf Minuten auch nicht besser hingekriegt. Kein Eintrag. Hausaufgaben zum nächsten Mal: Seite 122 oben.“