Zehn
5.11. 2010 9:35
Vor Schloß Bellevue steht ein Mann mit Deutschlandfahne. Lange, blonde Haare, Gesicht rotlila vom Wetter, Badelatschen. Wofür oder wogegen er demonstriert, haben ihn auch schon die Polizei und ein Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes gefragt. Bürokaufmann aus Göhren, hat jetzt ein paar Tage frei und reist mit seiner Fahne herum, weil er der Ansicht ist, es laufe einiges schief in dieser Republik. Kinder, die mittags zur Tafel müßten, weil sie zu Hause nichts bekommen, zum Beispiel. Freundliches Winken.
6.11. 2010 22:52
Breaking Bad und die Idee, alles noch einmal auf den Kopf zu stellen.
7.11. 2010 15:05
Wohnungsbesichtigung in Charlottenburg. Der Versuch, mein Leben nicht in einer dunklen 1-Zimmer-Hinterhofwohnung ausklingen zu lassen, erweist sich als schwierig. Nie im Leben einen Pfennig Schulden gehabt, durch Tschick Geld wie Heu auf dem Konto, aber kein Einkommensnachweis. Ohne Bürgschaft meiner Eltern käme ich an keine Wohnung ran. Auch insofern vorteilhaft, sie nicht zu überleben. Die Wohnung allerdings nicht besonders schön, beim Blick ins Badezimmer sehe ich die zukünftige Blutlache auf den Fliesen, und weitere Besichtigungen schaff ich nicht. Macht alles zu viel Umstände. Allein die Angst vor dem Papierkram.
8.11. 2010 9:38
Traum: Passig teilt mir mit, daß sie ein Buch über mich schreiben wird, einen Unterhaltungsroman, in dessen Mitte ich so unbeweglich stünde „wie sonst auf dem Fußballplatz“.
Erwache mit starken Kopfschmerzen und vermute einige Stunden das Naheliegende. Die letzten Tage schon Gleichgewichtsschwankungen. Weder Angst noch Beunruhigung. Der Wille zu leben längst nicht mehr so stark wie der Wunsch, sich zu verabschieden. Die Kopfschmerzen verschwinden am Nachmittag.
9.11. 2010 22:55
C.s Vater hat jetzt Knochenkrebs.
16.11. 2010 12:23
Tom Lubbock stirbt und schreibt. Sein Glioblastom sitzt im Sprachzentrum:
„My language works in ever decreasing circles. The whole of English richness is lost to me and I move fewer and fewer words around.
I cannot count. At all.
Marion and her embrace.
Ground, river and sea.
Eugene – his toys, his farm, his cars, his fishing game.
Getting quiet.
Names are going.“
23.11. 2010 21:24
Schalte zufällig in etwas rein, was sich Corine-Buchpreis nennt, 3sat, große Abendgala. Hans Joachim Schädlich gewinnt im Bereich Belletristik, und Kokoschkins Reise sinkt bei amazon auf 50.000.
24.11. 2010 8:07
Ganz feiner Schnee.
Es ist ein Kampf. Die ganzen letzten Tage schon. Ich will tot sein, jede Stunde, nur noch tot sein. Ich habe mich damit abgefunden, vor einigen Wochen bereits, da war ich mir noch nicht sicher, ob es eine Phase ist, aber es scheint keine Phase zu sein, ich habe mich tatsächlich damit abgefunden. Ich bin bereit, und jetzt warte ich, daß mich einer abholt, und es kommt keiner. In einem Monat ist MRT, ich hoffe auf ein Rezidiv, das mir einen Vorwand liefert. Etwa die Hälfte des Tages. Die andere Hälfte funktioniere ich normal und arbeite.
Was mich aufrecht hält, ist das Soziale. Die vom Wesen der Gesellschaft an einen herangetragene Anforderung, sich zu benehmen, vernünftig zu sein, am Tisch zu sitzen und den Gesprächen zu lauschen, auch wenn sie nicht die interessantesten sind, während man schreiend in die Grube will. Ich schaue, was die anderen machen, und versuche, es genauso zu machen, ich denke an Dürer, der tot ist, warum ausgerechnet Dürer, ich weiß es nicht, an einen seit 500 Jahren toten Maler, der seine Badefrau gezeichnet hat, der ihr gegenübersaß und sie zeichnete, der mit ihr redete, kein Mensch weiß, worüber, und sie waren glücklich oder unglücklich, verschämt oder aufgekratzt, verliebt oder gleichgültig, für ein paar Minuten oder Stunden, waren einmal reale Wesen in einer realen Welt, was man sich nicht vorstellen kann. Ich kann es mir nicht vorstellen. Und die Absurdität macht mich verrückt.
Die Unmöglichkeit, sich ein nicht selbst erlebtes Vergangenes vorzustellen, die Unmöglichkeit, sich in ein anderes Lebewesen hineinzudenken, die Unmöglichkeit, sich das Nichtsein vorzustellen.
Zwei der Unmöglichkeiten habe ich mittlerweile geknackt; das mit dem Nichtsein recht mühelos, das mit dem anderen Lebewesen funktionierte, als ich verrückt war, für einige Minuten. Allein das nicht selbst erlebte Vergangene ist vollkommen außer Reichweite.
Immer wiederkehrender, bildlicher Trostgedanke: die Sopranos, das Ende der Sopranos, das beste Ende.
Daß der Verlag praktisch jeden Tag anruft und neue Auflagen meldet, beruhigt mich und gibt mir das Gefühl, abgeschlossen zu haben.
25.11. 2010 12:00
Als ich meine Wohnung aufschließe, sitzt der Tod auf meinem Bett, ich taumle. Ein Mann, der aussieht wie ich, dreißig Jahre älter: Unangemeldet ist mein Vater aus Hamburg angereist. Ich wußte nicht, daß er einen Schlüssel hat. Ich wußte nicht, daß er mir so ähnlich sieht.
25.11. 2010 20:00
Lesung im Roten Salon. Karen Duve ist da, freut mich wahnsinnig. Outtake aus Tschick gelesen, Wüstenroman.
28.11. 2010 14:57
Mit das Unangenehmste an der Krankheit: Daß man sich nicht krank fühlt. Wenn ich schlapp bin oder leichte Kopfschmerzen habe, ist es besser, fühlt sich richtiger an. Aber körperlich fit und hellwach und mit dem idiotischen Gefühl, noch dreißig Jahre leben zu können, kommt mein Denken nicht klar.
28.11. 2010 19:34
Spazierengegangen Richtung Alexanderplatz. Über den Jahrmarkt gelaufen, mit der Wilden Maus gefahren. Die Einsamkeit der letzten Jahre.
29.11. 2010 18:58
Seltsame Körperteile: Alle paar Jahre fällt mir auf, daß ich Kniekehlen habe. Als Kind, als ich noch kurze Hosen trug und im Sommer braungebrannt war, sah ich sie öfter, schlanke, konkave Gebilde zwischen gespannten Sehnen. Als Erwachsener dann nur noch selten und meistens zufällig einmal im Spiegel, jedesmal erstaunt, daß sie mich nach all den Jahren noch immer begleiten. Die Erkenntnis, daß mein eigener Körper zu meiner Vorstellung von Ich nicht dazugehört.
2.12. 2010 11:47
Dicke Schneeflocken Anfang Dezember. Erinnern mich immer an meine erste Freundin. Selbstgestrickte Wollpullover, dunkle Tage, großes Schweigen. Heute hat sie Kinder und keine Googletreffer.
3.12. 2010 18:23
Schwere Kopfschmerzen. Nichts gemacht.
4.12. 2010 12:13
Traum: Ich bin in einem Heim oder Gefängnis interniert. Passig ist auch da, aber freiwillig. Wir sind wieder ein Paar. Ich will in der Ostsee baden, ein Pfleger warnt vor der Kälte, Passig singt aktuelle Charts-Melodien für mich. Beim Herumstöbern entdecke ich eine dünne, nur aus Ytong-Steinen gemauerte Wand und beschließe durchzubrechen. Zu Fuß werde ich es zu meinen Verwandten am Passader See schaffen.
Lektüre: Lolita, zum dritten Mal. Hatte mit Pnin angefangen, dann aber gleich umgeschwenkt.
5.12. 2010 12:29
Fast eine Stunde lang an meinen Augäpfeln herumgetastet. Der linke fühlt sich taub an und scheint vorzustehen. Mit Kühlkissen das Auge abgeschwellt. Wikipedia-Artikel zu Hirndruck gelesen: Anfänglich kann erhöhter Hirndruck zu Bewegungsunruhe führen. Die Wochen vor meiner OP bin ich praktisch jeden Weg gerannt. Und meine Augen standen vor, sagt meine Mutter.
In der Glockenkurve beginnt jetzt die zuckerhutförmige, schwarze Fläche, wo sie sterben wie die Fliegen. Ein, zwei Jahre, hinten tröpfeln die restlichen zehn Prozent raus.
5.12. 2010 22:04
Zwei Stunden von Mitte durch den Tiergarten bis Charlottenburg gelaufen. Kaninchen im Überfluß. Abends Schwimmen in der Alten Halle: Plötzlich kann ich kraulen.
6.12. 2010 20:22
Jemand bemerkt einen Fehler, der mich schmerzt: Maiks Alibi „weil ich den ganzen Tag Schule gehabt hatte“ (S. 247) funktioniert nicht am ersten Schultag. Man ersetze im Geiste „Schule“ durch „die Mongos am Hals“.
8.12. 2010 22:00
„Ich packe meinen Koffer, und ich nehme mit: Nichts.“ Vor und nach dem Jens-Friebe-Konzert lange im Schneetreiben Fahrrad gefahren. Die vierspurige Torstraße eine einzige plattgewalzte, weiße Fläche. Vor Freude noch ein paar Umwege gefahren, um dem Körper Gelegenheit zu geben, sich der winterlichen Schulwege zu erinnern: Pieksender Schnee in den Augen, das Verreißen des Lenkers, das Gegensteuern. Hellbraune Schlangen, die sich unterm Schutzblech stauen und wachsen und seitlich herauskringeln wie an einer Softeismaschine.
9.12. 2010 17:17
Brief von A. Immer noch die gleiche Handschrift, immer noch der gleiche Geist. „Die fünfundzwanzig Jahre, die ich seitdem durchlebt hatte, liefen in einer zitternden Spitze zusammen und entschwanden.“ (V. Darkbloom)