Rückblende, Teil 5: HaShem
Den sich minütlich oder sekündlich zu Wort dazwischenmeldenden Gedanken an den Tod versuche ich wegzudrängen, wie ich es mit fünfzehn oder sechzehn schon einmal mit anderen störenden Gedanken gemacht habe. Damals hatte ich den sehr starken und bedrückenden Eindruck gehabt, mein Leben zu verplempern, und mir Tagträume verboten, weil ich spürte, wie sehr sie mich von ihrer eigenen Erfüllung abhielten. Ich weiß nicht mehr, welchen Mechanismus ich damals benutzte, aber mindestens ein Jahr lang unterbrach ich jeden Anflug abschweifender Gedanken im Bruchteil einer Sekunde und widmete mich sinnvolleren Dingen oder dem, was ich dafür hielt.
Die Stimmen im Kopf: Walther, Wilhelm und Wolfgang. Rechts oben der auf 800 Tage eingestellte Hebel zur Manieregulation, der bei völliger Überdrehtheit auf 513 Tage gedrückt werden kann. Links oben die Neue Regentin (NR).
Diesmal reicht eine einfache Willensentscheidung nicht aus, und ich muß eine sehr plastisch vorgestellte Walther PPK in meinem Kopf installieren, um jeden unangenehmen aufkommenden Gedanken zu erschießen: Peng, peng. Zwei Kugeln, und ich denke an etwas anderes. Das funktioniert anfangs mal über kürzere, mal über längere Zeiträume gut, aber: es funktioniert. Daß meine Lippen gelegentlich lautlos und dann immer öfter auch nicht lautlos „Peng, peng“ dazu machen, ist mir herzlich egal, und auch, ob ich dabei allein oder in der Öffentlichkeit bin. Gelegentlich muß ich auch mit den Armen zucken wie um Fliegen abzuwehren und gleichzeitig den Abzug der Walther in der Hand zu behalten.
Daß ich zur Abwehr das äußere Gebaren und – wie ich daraus schließe – auch die inneren Strategien eines Verrückten reproduziere, beunruhigt mich nicht. Es sind von mir selbst initiierte Strategien, und ich beurteilte sie nach ihrer Effektivität: Mit immer größerer Zuverlässigkeit ballert es den Todesgedanken spurlos weg.
Nach einigen Stunden, vielleicht ist es auch ein Tag, bemerke ich, daß es in meinem Kopf knallt, ohne daß ich den Abzug gedrückt habe. Die Walther verselbständigt sich. Das ist mir willkommen, sie tut nur ihre Pflicht. Es klickt und knallt in meinem Kopf ohne mein Zutun, und der Todesgedanke taucht kaum noch bis unter die Oberfläche, während ich von allem unbeeindruckt am Computer sitze und arbeite. Auch wird das Klicken und Knallen langsam leiser und niederfrequenter. Oft denke ich eine halbe Stunde oder länger nicht an den Tod.
Zeitgleich mit der Walther etwa materialisiert sich ihr Gegenspieler. Zuerst nur in Form einer Störinstanz, und ich meine ziemlich genau zu spüren, wo in meinem Kopf sie sich befindet: Zentral hinten. Da sitzt etwas und ruft: Du stirbst.
Beim Versuch, die ohnehin schon erfolgreiche Walther in ihrem Kampf zu unterstützen, personifiziere ich die störende Instanz zuerst als Störer, dann Wilhelm Störer. Ich versuche ihn anzusprechen und notiere seine Reaktionen. Im Gegensatz zur Walther reagiert er so gut wie gar nicht und macht gern das Gegenteil von dem, was ich will. Also fordere ich ihn in ruhigeren Phasen auf, sich doch wieder einmal zu zeigen, und verhöhne ihn: Ob er nicht mehr stören wolle oder könne? Ob er sich vor der Walther fürchte? Und dann zeigt er sich nicht. Keine Eier, der Mann. Er zeigt sich am liebsten im Schutz anderer, positiver Gedanken.
Am Nachmittag ruft Jana mit belegter Stimme an. Sie hatte mich im Krankenhaus schon einmal mit belegter Stimme angerufen, und ich hatte sie gebeten, es nicht wieder zu tun. In ihrer Empathie schwingt etwas mit, das ich nicht verarbeiten kann, eine Mitteilung über meinen wahren, traurigen Zustand, eine Information, die ich mittlerweile erfolgreich verdrängt habe.
Ich bitte Jana, aus der Leitung zu gehen. Sie argumentiert, ihre Stimme sei gar nicht belegt, und versucht, die Sache zu klären. Daraufhin drehe ich durch. Ich schreie und schreie sie an und knalle den Hörer auf und schlage in Todesangst gegen die Wand. Ich wundere mich selbst, will es abstellen und kann es nicht. C. schaut sich alles ruhig vom Bett aus an. Nach zwei oder drei Minuten habe ich mich wieder gefangen.
Sofort schreibe ich eine Mail an Jana: „Es ist egal, wie belegt Du glaubst, daß Deine Stimme ist. Ich spüre Dein Mitgefühl, ich höre, was ich höre, und ich fühle, was Du fühlst. Das schlägt per Spiegelneuronen auf mich zurück und bringt mein System zum Absturz, ein sehr fragiles, philosophisch fragwürdiges System, das ich mir zusammengenagelt habe vor ein paar Nächten und innerhalb dessen ich keine Angst habe vor dem Tod. Ich werde nicht erklären, wie dieses System funktioniert, ich kann es nicht. Ruf mich bitte ab jetzt nicht nur nicht an, schreib mir auch nicht mehr. Ich höre beim Lesen Deine Stimme. Ich melde mich, sobald es wieder anders ist.“
Jeder weitere Gedanke an Jana generiert sofort Todesangst. Ich habe Angst vor ihrer Stimme, Angst vor ihrem Mitleid, Angst, ihr im Prassnik zu begegnen. Ich schalte Cornelius als Mittler dazwischen, der Jana erklären soll, daß es nichts gegen sie persönlich ist, worauf die Störinstanz in meinem Hirn versucht, auch Cornelius und das Prassnik mit dem Todesgedanken zu kontaminieren. Das kann ich noch eben so verhindern. Aber was ich nicht mehr kann, ist, Janas Namen schreiben.
Es ist bizarr. Ich registriere, was passiert, ich weiß auch ungefähr, was es bedeutet, aber: Ich kann die vier Buchstaben ihres Namens nicht mehr schreiben. Sobald ich es versuche, fliegen meine Arme von der Tastatur, in meinem Kopf knallt und zuckt es, und ich fange an zu lachen, denn komisch ist das ja auch: Ich kann ihren von Todesangst kontaminierten Namen nicht mehr schreiben. Mit Schnellschreiben und dem Automatismus der Handbewegung versuche ich mehrfach, über die Klippe hinwegzukommen, aber es ist aussichtslos, und das Geschieße in meinem Kopf wird immer wilder. Die Walther reicht als Abwehrmaßnahme nicht mehr aus, und ich nehme Maschinengewehre und Atombomben hinzu.
Schließlich helfe ich mir mit einem Trick und ersetze den Namen durch einen anderen. Ich schreibe an Cornelius: „Ich verehre und schätze HaShem. HaShem wohnt in Rostock. Geht doch.“
Aber mehr geht auch nicht. Rasch nimmt der neue Signifikant die Eigenschaften des Signifikats an, und ich muß HaShem umbenennen in Manitou und immer so weiter. Unmöglich, die klärende Mail zu Ende zu schreiben. Ich drücke auf Senden, weil ich den Anblick auf meinem Bildschirm nicht mehr ertrage, lösche die Mail aus dem Gesendet-Ordner und dann aus dem Trash und schreibe an Cornelius, er solle auf keinen Fall mit Fullquote antworten.
Bei aller Panik bin ich gleichzeitig so amüsiert über diese HaShem-Sache, daß ich den Kopf in den Nacken werfe und laut am Rechner auflache, und dieses Lachen hört sich an wie sehr schlechte Schauspieler in sehr schlechten Filmen, wenn sie den „total verrückten Irren“ geben, und das erschreckt mich.