Rückblende, Teil 2: Eine Nacht

Ich habe Passig gebeten, mir die Statistiken auszudrucken, die es gibt. Wenn noch irgendwas zu bewerkstelligen sein soll, muß ich wissen, wie lange mir bleibt. Wikipedia gibt 17,1 Monate ab Diagnose.

Die von Herrn Genista gefundene Gaußsche Glockenkurve der UCLA rettet in den ersten Nächten mein Leben. Sie brennt sich in mein Hirn. Es ist absolut unwahrscheinlich, weit über den Median auszureißen, aber das Diagramm mit seinen grauen Flächen und Prozentzahlen gibt mir etwas von der Ungewißheit zurück, die man braucht, um zu leben. Es kann in drei Wochen vorbei sein oder in 6065 Tagen. Ich muß Passig anrufen, damit sie mir die im Ausdruck nicht erkennbaren Zahlen auf den Medianen vorliest: 953 Tage für die Altersklasse 20-35, 698 Tage für meine Altersklasse. Ich bin 45.

Ich fange an, mich vorsichtshalber auf drei Monate runterzurechnen. Könnte man leben, wenn man nur noch drei Monate hat? Nur noch einen Monat?

Ich werde noch ein Buch schreiben, sage ich mir, egal wie lange ich noch habe, wenn ich noch einen Monat habe, schreibe ich eben jeden Tag ein Kapitel. Wenn ich drei Monate habe, wird es ordentlich durchgearbeitet, ein Jahr ist purer Luxus.

Was könnte man noch machen? Der Gedanke, den Diktator einer Bananenrepublik zu erschießen, drängt sich als sinnvollste Möglichkeit in den Vordergrund, viel besser läßt sich das Leben nicht nutzen. Mit der Winchester meines Vaters. Aber die Diktatorendichte vor meiner Haustür ist gering, und für einen ausgeklügelten Miles-and-more-Terrorismus reicht es vermutlich nicht mehr.

Liste von Dingen, die besser geworden sind: Nie wieder Steuererklärung, nie wieder Rentenversicherung, nie wieder Zahnarzt. Ich werde meine Eltern nicht zu Grabe tragen. Größte Horrorvorstellung meiner letzten Jahre: Ich stehe in ihrem Reihenhaus, umgeben von Erinnerungen und einem riesigen Hausstand, den ich weder entsorgen noch bewahren kann.

Schlimme Konzentrationsstörungen. Wenn ich lese, ergänzt mein Gehirn jeden Satz: Lee Harvey Oswald ging die Straße entlang, und du wirst sterben. Er sah die Autos, und du wirst sterben. An allen Gegenständen und Menschen haften jetzt kleine Zettel mit der Aufschrift Tod, wie mit Reißzwecken dahingepinnt. C. legt ihren Arm um meine Schulter: Tod. Sie lächelt: Tod.

Ich sehe auf den Hügel am Friedrichshain mit den kahlen Bäumen und sehe sie wie im Zeitraffer grün werden. Und wieder kahl. Und wieder grün.

Eines Abends kommen fast alle in meinem Zimmer zusammen und spielen einen Abend im Prassnik für mich nach. Sascha hat Knacker mit Kartoffelsalat mitgebracht und Prassnik-Bier in einer Thermoskanne. Mit dem Handy hat er den Wirt beim Einschenken gefilmt und klebt eine improvisierte Prassnik-Fototapete an die Wand.

Nur je einmal, als Natascha und Marek mich besuchen, bin ich gerade am Weinen. Es ist mir wahnsinnig peinlich, und ich höre sofort auf.

Regression: Ich liege abends in der Dämmerung, C. und die schwangere Julia sitzen auf dem Fußende des Krankenhausbettes. Sie unterhalten sich, während ich sanft einzuschlafen beginne. Mit der Decke bis unters Kinn hochgezogen bin ich sechs Jahre alt, die Mütter besprechen Erwachsenenthemen und wachen über mich.

Elinor hat ein Bild vom jungen Hamsun mitgebracht. Es hängt jetzt meinem Bett gegenüber unter dem Fernseher, und der Gesichtsausdruck des Fünfzehnjährigen erinnert mich auf sehr sonderbare Weise an das, was ich ursprünglich einmal gewollt habe im Leben. Der trotzige, hellwache, angewiderte Blick, die Erkenntnis, daß diese Welt eine Zumutung ist und der ablesbare Wille, ihr beizeiten noch mit der Axt den Schädel zu spalten. So gut wie Hamsun habe ich nie ausgesehen, aber ich weiß noch sehr genau, wie sich dieses Gesicht von innen anfühlte. Ich weiß auch noch, wie ich beim Erwachsenwerden den Verlust dieses Ausdrucks empfand, den Verlust von Tiefe und Sensibilität, und mit welchen theatralischen Gesten ich diesen Verlust mit Anfang zwanzig zu kompensieren versuchte.

In der Nacht auf den ersten März sind Holm, Kirk und Cornelius für die ZIA nach Köln unterwegs, über Berlin zieht ein Sturmtief auf und wütet die ganze Nacht. Stundenlang in dieser Nacht ordne ich mein Weltbild.

Daß alles vergeht und die Menschheit stirbt und die Sonne erlischt und alles sinnlos ist, habe ich immer gewußt. Nie, auch mit sechs Jahren nicht, hatte ich den geringsten Zweifel daran. Aber das ist eine eher abstrakte Erkenntnis, konkret zu Bewußtsein ist sie mir nur zwei oder drei Mal gekommen im Leben. Einmal als Kind, als ich merkte, daß ich sterben müßte. Einmal, erinnere ich mich, beim Lesen eines Artikels über das Graviton, wo ich auf einmal wußte: Es gibt diese Welt nicht, es ist ein bodenloses Nichts, und es knickte mir die Beine weg.

Ich habe das Fenster weit geöffnet, und der Sturm rüttelt an meiner Tür. Mehrmals während der Nacht kommt ein Pfleger, der den Wind durch die Station pfeifen hört, und ich bitte ihn, mein Fenster offen zu lassen. Ich stelle mir vor, mit meinem Bett in einem sehr hohen, schlanken Ziegelturm des Klinikums zu liegen, umgeben von schwarzer Finsternis und unendlicher Leere des Weltalls, und die Naturgewalten rütteln an meinem Turm und können nicht herein. Nicht in der winzigen Sekunde der Gegenwart, in der ich unantastbar bin.

In dieser Nacht wiederhole ich in Endlosschleife mir trostreich scheinende Sätze und Gedanken und baue aus ihnen ein kleines Abendgebet zusammen, das ich mir immer wieder und auch in den nächsten Tagen und bis heute aufsage, wenn ich nicht schlafen kann oder der Boden schwindet. Während ich es aufschreibe, halte ich es für das Größte, was ich je gemacht habe.

Niemand kommt an mich heran
bis an die Stunde meines Todes.
Und auch dann wird niemand kommen.
Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.

Dazu sehe ich den hohen Turm in die Finsternis ragen, sehe ein Stückchen Blei durch mein Hirn fahren und den Schädel zum Nichts hin öffnen. Dann einen Sekundenbruchteil das Panorama eines grünen Hügels, auf dem meine Freunde sitzen und picknicken. Dann nichts. Und dann das Ganze von vorn.

Nach dieser Nacht verschwinden die Markierungen an den Gegenständen, und die Konzentration kehrt zurück.

Ich würde nicht von einem spirituellen Erlebnis reden, auch wenn ich währenddessen darüber nachdenken mußte, ob es eines sei, und auch einige Tage lang den Eindruck hatte, es wäre eines gewesen. Wobei ich annehme, daß es in gewisser Weise das war, wovon manche Leute sprechen, wenn sie von einem spirituellen Erlebnis sprechen. Eine Infragestellung der Existenz, eine nicht mehr nur bloß abstrakte Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit im Angesicht der Unendlichkeit und eine Selbstüberredung zum Leben. Schließlich die Gewißheit, die Sache in den Griff zu bekommen.

Eine Selbsttäuschung, von der ich von Anfang an wußte, daß sie eine Selbsttäuschung ist, und die trotzdem funktionierte. Im Grunde nichts anderes als die Einstellung, mit der ich im Alter von sechs oder sieben Jahren, nach der Erkenntnis des Todes, auch weitergelebt habe: Ich werde sterben, ja, aber es ist noch lange hin (und der Tag wird nie kommen).

Es beginnt: Das Leben in der Gegenwart.