Acht

30.8. 2010 9:41

Der Wüstenroman hat mittlerweile über 300.000 Zeichen, einigermaßen durchgearbeitet. Noch mindestens genauso viel kommt noch, aber das ist zu schaffen. Ich drehe schon wieder am Rad, 16 Stunden Arbeit am Tag.

31.8. 2010 17:00

Eine Sturmböe fegt mir die Mütze vom Kopf. Dreißig Meter hinter mir bremst eine Fahrradfahrerin mit dem Vorderrad auf der Mütze und hebt sie für mich auf: Bettina Semmer. Sie fragt, wie’s mir geht, findet, daß ich gut aussehe und legt mir eine Hand auf die Stirn, um Energie zu spenden. Das Angebot weiterer Energiespenden am Wochenende kann ich allerdings nicht annehmen.

31.8. 2010 21:00

C. geht es beschissen, mir geht es beschissen. Zusammen ist es okay.

1.9. 2010 16:57

Exitstrategie, die dritte: Man macht mich darauf aufmerksam, daß der Wüstenroman mir eine Fatwa einbringen wird. Dabei wird die Religion bisher ausschließlich gelobt: die sittigende Kraft, die Klarheit des Gottesgedankens, Bildung und Scharia. Fraglich natürlich, was der Freundeskreis Dyslexie e.V. da am Ende herausliest. Und die richtige Islamstelle kommt ja erst noch.

5.9. 2010 10:23

Im Traum wohne ich in Rom. Mitglieder der Agnostischen Front verhören mich inquisitorisch, ob ich noch Atheist bin. Später gegoogelt: Die gibt’s wirklich.

Auf den Seiten der BVG hat jemand unter meinem Namen eine Kontaktanzeige aufgegeben. Text ist harmlos, erinnert mich aber an die deutlich weniger harmlose und sehr beunruhigende Geschichte vor sechs oder sieben Jahren, kurz nach Lottmanns Langer Nacht der Popliteratur. Da hatten wir im Kurvenstar gelesen, Gerrit Bartels hatte vernichtend darüber geschrieben, und wenige Tage später, als ich mit Holm und noch wem in einer Kneipe in der Metzer Straße saß, kam ein mir unbekannter Mann an unseren Tisch und fragte: Prügeln wir uns gleich oder später? Gerrit Bartels, wie sich dann rausstellte, der am selben Morgen einen mit meinem Namen unterzeichneten Brief bekommen hatte, in dem so Sachen standen in der Art, man wisse wo sein Auto parke, er habe mich (den Briefschreiber) „schon länger auf dem Kieker, lange kieke ich mir das nicht mehr an“ und dann noch irgendwas mit Fresse hauen. Sprachlich klang das ein bißchen nach Titanic-Umfeld; und es war offensichtlich jemand aus meiner näheren Umgebung. Bartels und ich konnten das Mißverständnis an jenem Abend nicht wirklich ausräumen, erst, als wir uns in Klagenfurt noch mal wiedertrafen. Er fand Gefallen am Van-Allen-Gürtel, schrieb eine gute Kritik und dann auch noch ein Porträt (bei welcher Gelegenheit er mir auch den ominösen Brief zeigte).

Seitdem hatte ich mich immer gefragt, ob es den Briefschreiber wohl gewurmt hat, so erfolglos gewesen zu sein. Erst heute macht C. mich darauf aufmerksam, daß der Mann angenommen haben muß, seine Drohungen hätten die positive Berichterstattung bewirkt.

Im nachhinein ganz lustig, aber wenn ich an jenem Abend nicht zufällig in der Metzer Straße gesessen hätte, hätte das alles sehr unschön werden können.

5.9. 2010 15:13

In der S-Bahn am Zoo steigt ein mit Handschellen gefesselter Mann die Treppen hinauf. Der Mann ist groß und dürr, ganz in Leder gekleidet und mit etwas zuviel silbernen Beschlägen behängt, um einen ernsthaft nach dem fehlenden Polizisten Ausschau halten zu lassen. Einige Meter vor ihm nur ein Dicker in schäbigen Alltagsklamotten. Wie schön, in einer Stadt zu leben, in der auch nicht ein einziger Passant sich nach den beiden umdreht.

6.9. 2010 9:29

Bei C. im Bücherregal: Dostojewskijs Briefe. Schlage zufällig als erstes die Stelle auf, wo er an seinen Bruder von der Hinrichtung schreibt: „Heute, am 22. Dezember [1849], wurden wir alle nach dem Somjonower Platz gebracht. Dort verlas man uns das Todesurteil, ließ uns das Kreuz küssen, zerbrach über unseren Köpfen den Degen und machte uns die Todestoilette (weiße Hemden). Dann stellte man drei von uns vor dem Pfahl auf, um das Todesurteil zu vollstrecken. Ich war der sechste in der Reihe; wir wurden in Gruppen von je drei Mann aufgerufen, und so war ich in der zweiten Gruppe und hatte nicht mehr als eine Minute noch zu leben. Ich dachte an Dich, mein Bruder, und an die Deinen; in dieser letzten Minute standest Du allein vor meinem Geiste; da fühlte ich erst, wie sehr ich Dich liebe, mein geliebter Bruder! Ich hatte noch Zeit, Pleschtschejew und Durow, die neben mir standen, zu umarmen und von ihnen Abschied zu nehmen. Schließlich wurde Retraite getrommelt, die an den Pfahl Gebundenen wurden zurückgeführt, und man las uns vor, daß Seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenke.“

Einen Brief vorher bedankt er sich bei seinem Bruder für Shakespeare und Jane Eyre („sehr gut“).

7.9. 2010 12:32

Kriege jetzt erst mit, daß es in Christchurch ein Erdbeben der Stärke 7,4 gegeben hat, heute Nachbeben. Keine Toten. Weiß immer noch nicht, wie ich Calvin kontaktieren soll. Schaffe es nicht, E. zurückzurufen. Schaffe es nicht, A. anzurufen.

11.9. 2010 11:32

Das erste Exemplar von Tschick mit der Post. Ganzen Vormittag Korrekturen gemacht. Rechtschreibfehler bedrücken mich kaum noch, aber die vielen überflüssigen und falschen Sätze.

Eine Einladung des Goethe-Instituts in New York abgelehnt. Februar, was ist im Februar? Zu verdanken hab ich das offensichtlich Susan Bernofsky, die mal Path of the Soldier übersetzt und jetzt auch in einer Literaturzeitschrift untergebracht hat.

13.9. 2010 11:40

Geträumt von einer amerikanischen Studie, die nachweist, daß Alleinsein Krebs macht. Wußte ich aber schon.

16.9. 2010 16:18

Versuchsweise einem Interview am Telefon zugestimmt, WDR, ging gar nicht. Zweiter Tag der Chemo, Konzentrationsschwierigkeiten, keinen Satz zu Ende geredet. Aber das eigentliche Problem ist: ich erinnere mich kaum noch an das Buch. Das alles liegt schon so weit zurück, und heute morgen hab ich grad mit Uwe Heldt telefoniert, damit er das nächste verkauft.

17.9. 2010 23:55

Lobos Buchvorstellung in der Backfabrik, deutlicher Unterschied zur Leseprobe des ersten Kapitels. Warum Frauen auftauchen in dem Roman, ist mir zwar noch immer nicht klar, und auch Lobos mantraartig vorgetragene Behauptung, der Erzähler sei unzuverlässig, läßt mich befürchten, der Autor habe dies im Buch darzustellen vergessen. Aber die ausgewählten Kapitel sind sehr unterhaltsam, und auch im Publikum fehlen die gewohnten Lobohasser oder melden sich nicht zu Wort.

Zum ersten Mal begegne ich meinem Verlagschef Gunnar Schmidt und scheitere noch mehr als sonst am Smalltalk, überfalle ihn mit meinem nächsten unausgegorenen Projekt und bringe keinen Satz des Lobes über Franzen sinnvoll zu Ende, obwohl es mir so am Herzen liegt.

19.9. 2010 21:59

Letzte Harald-Schmidt-Sendung online, wahnsinnig groß. Ich fand ihn ja immer toll. Toll, als er Gala machte, toll mit Feuerstein, als er zu Sat.1 ging, als er Andrack auf die Bühne setzte, toll nach seiner langen Pause und mit Bart, als er Pocher holte, ich fand ihn jedesmal wieder toll, und das ist mir hauptsächlich in Erinnerung geblieben, weil man mit dieser Position zunehmend allein dastand. Das Feuilleton fand ihn auf jeder Station schlechter als vorher, und bei den meisten Freunden hatte ich den Eindruck, sie guckten Schmidt schon lange nicht mehr. Aber man muß sich nur mal diese letzte Sendung ansehen. Ranga Yogeshwar erzählt Sarrazin einen Judenwitz: unfaßbar.

Merkwürdigen Interviewausschnitt wiedergefunden: „Ob Sie Atheist sind, wird sich noch zeigen. Mir hat mal ein Urologe erzählt, auf dem Sterbebett werden alle katholisch. Diese Erfahrung habe ich auch selbst gemacht, denn ich war während des Zivildienstes in einer Pfarrei beschäftigt. Da wurde der Pfarrer von sogenannten Atheisten schreiend ins Krankenhaus geholt, wenn der Tumor im Endstadium war. Ich glaube, ob man Atheist ist, kann man erst auf den letzten Metern sagen.“ Aus Neu-Ulm kommt man wahrscheinlich nicht unbeschadet raus. Trotzdem irritiert das an einem wie Schmidt irgendwie.

20.9. 2010 13:28

Angesichts der Tatsache, daß morgen mit geringer (Ansicht des Arztes) bis mittlerer (Statistik, meine Ansicht) Wahrscheinlichkeit mein Todesurteil aus dem Faxgerät kommt, bin ich ganz gelassen. Schlafe ohne Probleme und ohne Hilfsmittel. Vielleicht mache ich mir unzulässige Hoffnungen. Oder ich bin wirklich über diesen Quatsch mit dem Sterben hinweg.

21.9. 2010 12:35

Geträumt: Ich stehe am Westtor, in meiner Nürnberger Wohnung, und schaue hinaus. Es ist die dunkelblaue Stunde, bevor die Sonne aufgeht, und über Nacht ist Schnee gefallen. Ich weiß, daß C. oder D. draußen ist, und gehe sie suchen. Unter der Schneedecke zeichnen sich die Hügel eines Friedhofs ab. Wie schön es wäre, denke ich, auch so ein Grab zu haben. Ein kniehohes Wesen mit schneeweißem, bohnenförmigen Körper, einem hohen Zylinder auf und Armen aus kleinen Ästen greift nach meiner Hand und führt mich zwischen die Bäume. Ich bin wieder sechs Jahre alt oder, wie die Traumstimme das nennt, im Wunderland der Kindheit.

Für anschließend zwei Pläne: Wenn kein Tumorwachstum, setz ich mich an den Wüstenroman und hau ihn bis zum nächsten MRT zusammen. Im andern Fall: werf ich ihn weg und verleg mich aufs Blog. Was schade wäre. Korrekturleser meinten, es wäre das Beste, was ich bisher geschrieben habe.

Uwe hat die ersten zwanzig Kapitel durchgeschaut und Rowohlt informiert. Man könnte einen Slot zwischen Sommer und Herbst freihalten.

21.9. 2010 13:11

Warten auf den Befund bei Dr. Vier. Ich kann ihm zur Begrüßung nicht ins Gesicht sehen. Setze mich in den Stuhl und warte, bis er den ersten Satz sagt.

Es folgt: Der Wüstenroman.

22.9. 2010 23:55

Nach einem Tag Gleichgültigkeit kommt der Gefühlsausbruch doch noch. Wir sitzen gerade im Prater, und ich muß mit Kathrin vor die Tür. Anlaß diesmal: das Blog, das Sascha und Meike für mich gebastelt haben.

Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: Die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.

24.9. 2010 9:43

Geträumt, daß ich tot bin und träume.

24.9. 2010 12:22

Sitze mit dem Rechner auf einer Bank an der Spree. Karamellfarbene Mäuse mit einem schwarzen Längsstreifen über den Rücken rutschen seitwärts aus dem Gebüsch, schauen mir eine halbe Sekunde lang in die Augen und sprinten davon. Google: Brandmaus.

24.9. 2010 14:34

Laut SZ haben Hawking und Mlodinow die Existenz Gottes widerlegt. Wie ihnen das ohne die Weltformel zu finden gelungen ist, verschweigt der Artikel dezent. Weiter wurde bewiesen, „daß quantisierte Uni- und Multiversen aus dem Nichts fluktuieren, ganz wie man es von virtuellen Teilchen kennt“, und die Welt sei ein Traum, „der aus dem Nichts“ käme. Nun ja. Da hätten sie den armen Hawking nicht bemühen müssen.

Autor des SZ-Artikels ist Teilzeitphysiker Ralf Bönt, mein all-time favourite bei selbstgeschriebenen Wikipediaeinträgen: „Für Aufsehen sorgte Bönts Auftritt beim Bachmannpreis 2009, wo er einen artistischen Text über Heinrich Hertz vorlas, dessen Erzähler ein Phonon ist. Da die Jury es nicht von einem Photon unterscheiden konnte, griff Bönt in die Diskussion ein, obwohl Autoren in Klagenfurt nach einem ungeschriebenen, noch aus der Gruppe 47 stammenden Gesetz eigentlich schweigen sollen. Sichtlich amüsiert erklärte Bönt der überforderten Jury den Unterschied von Licht und Schall.“

25.9. 2010 13:39

Mein Vater ruft an, weil er den ersten Roman seit Jahren oder Jahrzehnten gelesen hat. Und er war begeistert. Es habe ihn in seine Schulzeit zurückversetzt.

4.10. 2010 10:19

Bekomme mit, daß der Verlag Bloglink mit Psychiatrisierungseintrag als Werbemittel rumschickt. Wahnsinn. Und nein, das ist nicht mit mir abgesprochen.