Fünf

1.6. 2010 11:53

Müdigkeit weg. Und hey, ich kann auch drei Kapitel am Tag. Das wollen wir doch erstmal sehen, ob sie beim Deutschen Jugendbuchpreis ein rasend schnell zusammengeschissenes Manuskript von einem durchredigierten unterscheiden können.

7.6. 2010 12:24

„Die Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, sieht eine große Gefahr darin, Patienten einen schnellen, effektiven Tod zur Verfügung zu stellen. ‚Es verführt dazu, zu meinen, man könne mal eben über den Tod entscheiden.'“

Mitleiderregende Dummheit, für das Amt des Bundespräsidenten überqualifiziert.

X., die Erschießen für zu unsicher hält, kündigt an, daß sie in diesem Fall vor der Tür warten wird. Warten, bis sie den Schuß gehört hat und dann reinkommen und den Rest mit der Plastiktüte erledigen, falls nötig. Es ist rührend, und ein bißchen graust es mich auch. Aber da bin ich anscheinend der einzige im Raum.

8.6. 2010 18:16

Nachmittags lege ich mich müde hin. Als ich wieder aufstehen will, ist die Welt weg oder verschwommen. Linkes Auge, rechtes Auge: verschwommen. Ich gerate nicht in Panik, ich habe keine Angst, es ist nur riesengroße Gleichgültigkeit: So geht das also los. Ich kann die Schrift am Computer nicht mehr lesen. Ich stelle sie doppelt so groß und arbeite noch dreißig Sekunden, dann kann ich auch das nicht mehr lesen. Soll ich die Notfallnummer des Onkologen anrufen? Irgend jemanden anrufen? Ich nehme mein Handy und ein Handtuch und gehe raus und lege mich in die Sonne neben das große Kinderplanschbecken in der Eichendorffstraße. Sie haben die Wassersprenger wieder angeschaltet wie jeden Sommer. Mitte-Väter schwenken ihre Kinder an Armen und Beinen durch die Luft, Mütter liegen neben Kinderwägen und lesen Zeitung. Neben mir ins Gras setzen sich vier junge Männer und unterhalten sich über die Begriffe Zweck und Absicht bei Kant und Hegel, und es ist eine grauenvolle Unterhaltung, ein grauenvoll verfehltes, sinnloses Leben, während um sie herum alles in schönster Blüte steht. Nach einer Weile ist mein Auge wieder da. Ich ziehe die Mensacard aus dem Portemonnaie, um zu gucken, ob ich die Schrift darauf lesen kann, und gehe zurück an die Arbeit. Auf dem Weg schleppe ich einen Getränkekasten in den vierten Stock.

12.6. 2010 14:00

Passig kommt zum Korrekturlesen für den fertigen Roman vorbei. Deadline hätten wir geschafft, aber gestern Anruf in Oldenburg: die Ausschreibung für den Jugendbuchpreis ist ausgesetzt, keine Haushaltsmittel, endgültige Entscheidung erst in einem Monat. Völliger Tonusverlust, Müdigkeit, kann den ganzen Tag kaum stehen. Passig korrigiert, ich liege schlapp in der Gegend rum. Als ich über eine strittige Stelle diskutieren will, sagt sie: Mit mir diskutieren kannst du, wenn du tot bist. Mein Bedarf an Witzen ist gedeckt.

Nebenbei habe ich auch Geburtstag, Passig formt auf der Torte eine traurige 45 aus Erdbeeren und Heidelbeeren.

13.6. 2010 20:00

Deutschland-Australien 4:0.

14.6. 2010 11:26

Traum: Prof. Moskopp kommt in Tellkamps Roman vor. Er operiert mich zum zweiten Mal, und ich sterbe.

14.6. 2010 14:30

Während ich mit Tim Attanucci in der Mensa sitze, ruft Uwe mit einem Angebot von Alexander Fest an, ich höre nur den Veröffentlichungstermin und sage: zuschlagen. Machbar wäre erster September, marketingtechnisch wollte man lieber bis nach der Buchmesse warten. Manuskript muß dann Montag vorliegen. Also noch letztes Kapitel schreiben und Problemkapitel überarbeiten.

21.6. 2010 00:43

Fußball geguckt im Haus der Kulturen, dann mit letzter Kraft das Manuskript von den Varianten gesäubert und an den Verlag geschickt. Hinten alles Kraut und Rüben. Morgen früh MRT.

21.6. 2010 15:00

Völlige Gleichgültigkeit vor dem MRT, völlige Gleichgültigkeit nach dem MRT. Mittags dann Versuch, den Befund telefonisch zu erfragen, gescheitert. Termin bei Dr. Zwei machen müssen. Viertelstunde Fußweg. Dr. Zwei erklärt den Befund und die enthaltenen Worte Schrankenstörung, konstant, niedergradig, suspekt. In der Summe bedeuten sie, daß sich im Moment nichts verändert in meinem Hirn, nichts wächst. Gleichgültig raus aus der Charité. Zehn Minuten später dann Zusammenbruch, am Ufer der Spree gekrochen, geheult.