Vier

9.4. 2010 22:30

Abends bei Ulrikes Buchvorstellung zu müde, um viel mitzukriegen. C. bringt mich ins Bett.

12.4. 2010 13:18

Die bestrahlungsfreien Wochenenden erweisen sich als irgendwie schwieriger als die Werktage. Vielleicht liegt es am Mangel an Struktur. Vielleicht brauche ich auch die Stromzufuhr wie der Held in Crank 2. Toller Film übrigens, beste King-Kong-Szene aller Zeiten.

14.4. 2010 8:25

Ist das ein Argument, es vielleicht doch mit ein paar ungewöhnlichen Medikamenten zu versuchen?

14.4. 2010 17:28

„Nach Therapieende bitten wir Sie, die nicht mehr benötigten Enten in den Mülleimer zu werfen.“ Neben dem Waschbecken ein viereckiges Plastikfläschchen Sterillium zum Hände Desinfizieren, darauf ein durchsichtiges Firmenschildchen von Bode Chemie Hamburg, Melanchthonstraße 27. Vierundzwanzig Jahre ist es her, daß ich immer mit dem VW-Bus zu dieser Adresse fuhr, um diese Schildchen auszuliefern, die ich selbst zuvor als Druckvorlagen auf dem Leuchttisch zusammengeklebt hatte. Und die immer ganz genau kontrolliert wurden, Bode war einer der drei wichtigsten Kunden. Wenn da nur ein Komma angebröselt war, wurde anstandslos die ganze Ladung neu gedruckt.

Ein halbes Jahr Praktikum in der Druckerei, das brauchte man angeblich fürs Kunststudium in Nürnberg, ein halbes Jahr harte Arbeit, das verschwendetste halbe Jahr meines Lebens. Das war zu der Zeit, als diese Paßfotos entstanden, auf denen ich mich selbst nicht erkannte, und meine Mutter eines Tages sagte: Du willst dich nicht umbringen, oder?

Jeden Tag stand ich in der Dunkelkammer, drei Minuten, während der Film entwickelte, spürte, wie mein IQ nach unten zählte, und sagte mir Gedichte auf. Lange tot und tiefverschlossen. Alles, was ich so kannte.

Aber guter deutscher Mittelstand: Wulf Offset gibt’s noch immer, und ich stelle mir vor, wenn’s die immer noch gibt, ist Bode Chemie wahrscheinlich immer noch Kunde, und irgendwo in einem alten Fotokarton in der Wiesenstraße lagern noch immer die Signets, die ich damals sorgfältig umkopiert habe, und finden noch immer ihren Weg auf die Etiketten und in die Krankenhäuser und über die Waschbecken, wo sie mich treu begleiten.

Eine Gedichtzeile von Eich, die ich immer gut fand: Gruß dir, du Gruß von drüben, wo einst die Welt geschah.

15.4. 2010 12:30

Der Onkologe Dr. Vier nimmt die Studie zu Cilengitid, Oncovir und Talampanel auseinander, die ich ihm ausgedruckt habe. Phase-II-Studie mit noch nicht zugelassenen Medikamenten, warum ist das am Ende nicht mal nach Medikament aufgeschlüsselt? Okay, alles zu weit weg. Er spricht von Avastin, ebenfalls Angiogenesehemmer und ohne Zulassung in Deutschland, das er, wenn es so weit ist, mit Ausnahmeregelungen bei der Krankenkasse beantragt. Aber es ist gut, daß ich gefragt habe. Ich habe das Gefühl, in guten Händen zu sein und mich mit der Sache nicht mehr befassen zu müssen. Der Verlust an Lebensqualität, der durch die Beschäftigung mit dem Elend eintritt, wird durch das Ergebnis nicht aufgewogen. Ende des Googelns. Schön nur die neuesten Zahlen, die Herr Genista mir geschickt hat, dort überleben mittlerweile in meiner RPA-Klasse 28% vier Jahre und 28% erreichen die Fünfjahresgrenze: praktisch ewiges Leben. Damit kann man arbeiten.

16.4. 2010 12:44

Meine Chronik des Jahres ’99 wiedergelesen, was ein Elend. Glücklich war ich auch nur, wenn ich nicht verliebt war. Im Vergleich zu 1986 und 1999 nimmt sich 2010 nachgerade prächtig aus.

16.4. 2010 19:49

Ich kann mich nicht erinnern, wie diese zwei Nerd-Statuszeilen hießen, die manche Leute vor zehn Jahren unter ihren Mails hängen hatten und wo man in verschlüsselter Form über ihre gesamte Biografie, ihre wirren Vorlieben und ihr Verhältnis zu Bill Gates informiert wurde. Aber auch auf der Hirntumorliste ist es üblich, Chiffren an seinen Namen zu hängen, die zu den Ansichten über Strahlen, Haarausfall und Boswellia serrata hinzuaddiert werden müssen: „LG Karen AA III/07“ oder „Heinz Astro 2.2003“. Wenn „Christina 35, GBM IX/03“ postet, hört man, wie die anderen Glioblastome in Deutschland die Luft anhalten.

19.4. 2010 13:17

C. hat mir ein vom Sand und Blut des Irakkriegs gereinigtes Militärkäppi für meine Frisur gekauft. Wenn ich mit meinem Sichtfeldausfall jetzt Leute anremple, fangen sie an, sich bei mir zu entschuldigen.

Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite. Ich arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken, ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie, ich arbeite die Minute, die ich in der Umkleidekabine stehen muß, mit dem Papier an der Wand. Ich versinke in der Geschichte, die ich da schreibe, wie ich mit zwölf Jahren versunken bin, wenn ich Bücher las.

Liste der Bücher, die mich in verschiedenen Phasen meines Lebens aus unterschiedlichen Gründen am stärksten beeindruckt haben und die ich unbedingt noch einmal lesen will:

Der Seeteufel
Aquis submersus
Jane Eyre
Arthur Gordon Pym
Sommer in Lesmona
Im Schatten junger Mädchenblüte
Hunger
Der Idiot
Schuld und Sühne
In Cold Blood
Dies ist kein Liebeslied

Wobei von Stendhal über Nabokov bis Salinger alle fehlen, die ich in den letzten ein zwei Jahren schon erledigt hab. Und für den ganzen Proust reicht’s halt nicht noch mal.

21.4. 2010 23:00

Bayern-Lyon bei Cornelius. Nachdem mich die 22 Akteure auf dem Rasen lange Wochen nicht wirklich interessierten, ist jetzt alles wie gehabt. Cornelius erklärt den Totalen Fußball, ich trinke Tee, und Holm, Tim und Philipp bewundern Cornelius‘ neueste Sesselanschaffungen auf ebay, die er offenbar in Staatsaktionen mit der U-Bahn durch Berlin kutschiert. Man hatte sich ja immer gefragt, was der Mann eigentlich macht.

Neben Passig und Hubrich ist Cornelius derjenige, bei dem es mich am meisten schmerzt, nicht zu wissen, wo er in zehn Jahren sein wird. Dieses unfaßbare Potential, das nirgends hinsteuert. Vielleicht sitzt er dann bei Alexander Kluge. Oder versackt in Princeton. Oder redet weiter im Prassnik Leute an die Wand.

Per Leo ist auch noch so einer. Aber da sieht man’s wenigstens schon ungefähr.

22.4. 2010 11:07

Zu meiner Überraschung ist die Strahlentherapie heute schon zu Ende, ich hatte nicht mitgezählt. 41 Termine, 60 Gray. Ein bißchen Haarausfall, eine Schwummrigkeit und die letzten Tage mitunter Konzentrationsstörungen, mitunter starke Konzentrationsstörungen. Offenbar zeige ich wieder die falsche Reaktion: Ich freue mich nicht. Ich mochte es, daß da auf diese Stelle in meinem Kopf geschossen wurde. Gibt es eigentlich Versuche mit Placebo-Strahlentherapie?

22.4. 2010 11:38

Bischof Mixa hat’s versenkt. Daß ich das noch erleben darf. Jetzt noch den Papst, Deutschland Fußballweltmeister und der Jugendroman mit mehr als 3.000er-Auflage, bitte.

Fahrrad reparieren: Es ist ungeheuer, was man im Lauf seines Lebens an Weltwissen und Kulturtechniken sich aneignet und mit sich herumschleppt, und man kann mit dem meisten doch nicht viel mehr anfangen, als es irgendwann weiterzugeben. Ich weiß nicht, warum es mir beim Fahrrad Reparieren immer so besonders auffiel. Aber ich hab in meinem Leben keinen Reifen geflickt und wieder aufgezogen, ohne beim Sichern des Ventils die Worte meines Vaters zu hören, gesprochen in einem Keller am Möhlenbarg vor fünfunddreißig Jahren: Wenn das da wieder reinrutscht, war alles umsonst. Und ziemlich oft habe ich mir auch vorgestellt, ich selbst würde diesen Satz eines Tages zu einem Zehnjährigen sagen.

23.4. 2010 13:01

Das Wesen der Zeit mag unerfindlich sein, und was ich über Präsentismus, Blockzeit und Possibilismus auf Wikipedia nachlesen kann, verstehe ich bestenfalls als Konzept. Aber in meinen täglichen und nächtlichen Gedanken gewinnt die Vorstellung der Unendlichkeit und des Nichts, zu dem unsere Existenz ihr gegenüber zusammenschrumpft, so sehr an Plastizität, daß ich manchmal glaube, alles verstanden zu haben. Alles verstanden zu haben. Die Gewißheit kommt schlaglichtartig und ist nicht so hundertprozentig wie in den Momenten der größten Verrücktheit. Aber irgendwas ist hängengeblieben. Gestern beim Fahrrad Reparieren alle zwei Minuten eine Erleuchtung.

Als Tony Soprano einmal im Krankenhaus liegt, ich glaube, wo er angeschossen wurde, liest er ein Kinderbuch über Dinosaurier. Er ist auf tonyhafte Weise sichtlich ergriffen, Christopher kommt rein:

TONY: „Get this … It says here that if the history of the planet was represented by the Empire State Building, the time that human beings have been on earth would only be a postage stamp at the very top. You realize how insignificant that makes us?“
CHRISTOPHER: (pauses for a second and then): „I don’t feel that way.“

23.4. 2010 13:15

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies
Und Engel gibt es doch
In unseren Herzen lebst du weiter
Einen Sommer noch
Noch eine Runde auf dem Karussell
Ich komm‘ als Blümchen wieder
Ich will nicht, daß ihr weint
Im Himmel kann ich Schlitten fahren
Arbeit und Struktur

25.4. 2010 8:52

Zwei Tage lang wenig geschafft, dem Hirn beim Regenerieren zugeschaut. Die teilweise schon wilden Konzentrationsstörungen haben sich gelegt, die Schwummrigkeit überwiegend auch. Ob die mühsam zusammengeschraubten Kapitel der letzten Wochen etwas taugen, weiß ich nicht. Der Anfang des Romans war leicht, der war ja auch am weitesten, aber immer spürbarer wird jetzt zur Mitte hin das Problem, die Fäden in der Hand zu behalten. Warum geht es dem Jungen zwei Kapitel scheiße, und dann beginnt das nächste Kapitel mit Aufbruch und Begeisterung? Unterbricht die Sache mit dem Vater nicht den Lesefluß komplett? Mir fehlt die Übersicht, und ich wage es nicht, diese Probleme auf eine Schlußkorrektur zu verschieben.

Statt Konzentrationsstörungen Halsschmerzen und Schnupfen. Das wird mir jetzt zu blöd. Nachdem ich den Alkohol aufgegeben habe, müssen als nächstes die Raucherkneipen dran glauben. Lebwohl, Prassnik.

27.4. 2010 13:07

Diese Empfänglichkeit für Lyrik. Goethes Zueignung, und ich bin am Ende. Auch ein Buch, das ich eigentlich noch mal lesen müßte: der kommentierte Briefwechsel. Ich habe Goethe wirklich gehaßt für seine Romane (alles außer erster Hälfte Werther) und seine kleinkarierte Kunsttheorie, aber ungeheuer nahegekommen ist er mir in diesen Briefen. Die Lyrik und die Briefe.

28.4. 2010 20:47

Endlich schleppt sich die Romanhandlung raus aus Berlin. Der Lada ist fachmännisch kurzgeschlossen, und grad hab ich die Jungs auf die Autobahn gejagt und mich unter den Tisch gelacht über den Einfall, daß sie keine Musik hören können. In Gegenwartsjugendliteratur ist es zwingend notwendig, die Helden identitätsstiftende Musik hören zu lassen, besonders schlimm natürlich, wenn der Autor selbst schon älteres Semester ist, dann ist die Musik auch gern mal Jimi Hendrix, der neu entdeckt werden muß, und Songtextzitate gehören sowieso als Motto vor jedes Buch. Aber der Lada hat leider nur einen verfilzten Kassettenrekorder. Kassetten besitzen die Jungs logischerweise nicht, und dann finden sie während der Fahrt unter einer Fußmatte die Solid Gold Collection von R. Clayderman, und ich weiß auch nicht, warum mich das so wahnsinnig lachen läßt, aber jetzt kacheln sie gerade mit Ballade pour Adeline ihrem ungewissen Schicksal entgegen. Projekt Regression: Wie ich gern gelebt hätte.

Ein Motto aus meinem Lieblingsfilm steht dem Buch trotzdem voran, ich hoffe das geht okay:

Dawn Wiener: I was fighting back.
Mrs. Wiener: Who ever told you to fight back?

29.4. 2010 19:00

Mit dem Fahrrad durch Marzahn und Hellersdorf. Erstbesteigung des Kienbergs (102 m). Meine Angst vorm Straßenverkehr ist wieder nahe Null. Nirgends gegengefahren. Einen Eichelhäher gesehen, einen Hasen, ein Eichhörnchen und eine Schlange. Und die passende Wohngegend gefunden für den Erzähler: mittelprächtige Villen neben Plattenbauten. Google Earth zeigt Swimming-Pools.

30.4. 2010 21:36

Was ich brauche, ist eine Exitstrategie. Ich hatte Cornelius gegenüber schon mal angefangen, aber das war noch zu Zeiten der Manie, und da war ich noch vollkommen sicher, daß es nur eine Waffe sein könne. Aus dem einfachen Grund, daß ich herumging und mich prüfte und spürte, die Sache nicht in einem Moment der Verzweiflung, sondern der Euphorie hinter mich bringen zu können, und ohne Probleme. Voraussetzung dafür war, daß zwischen Entschluß und Ausführung nicht mehr als eine Zehntelsekunde liegen dürfe. Schon eine Handgranate wäre nicht gegangen. Die Angst vor den drei Sekunden Verzögerung hätte mich umgebracht. Medikamente mit dem langwierigen Vorgang des Schluckens und Wartens sowieso. Weil ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewißheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene. Googeln fällt mir unsagbar schwer, ein praktikables How-to nicht auffindbar. Freunde informiert: Falls jemand von Mitteln und Wegen weiß oder im Besitz davon ist – am 21. Juni ist das erste MRT. Bis dahin brauche ich was hier. Ob ich die Disziplin habe, es am Ende auch zu tun, ist noch eine ganz andere Frage. Aber es geht, wie gesagt, um Psychohygiene. Ich muß wissen, daß ich Herr im eigenen Haus bin. Weiter nichts.

5.5. 2010 9:50

Morgens mit dem Fahrrad die Spree entlang, auf dem Weg von C. nach Hause. Ausschließlich Frauen am Ufer. Sie gehen spazieren und machen mit den Armen Bewegungen, daß man sieht, es soll Sport sein. Vielleicht ist Moabit zu arm für Skistöcke.

Und richtig gut angesehen ist man im 451 auch nicht, wenn man den neuen Roland Emmerich ausleiht.

5.5. 2010 22:20

Wieder runter zu meinem Nachbarn, der es schafft, mir den Tag zu versauen. Nachdem er die Tür aufgemacht hat, frage ich nur: Geht’s? und gehe wieder, und er fragt mich allen Ernstes, warum ich geklingelt habe. Warum habe ich all die Jahre bei ihm geklingelt? Damit er mir mit einer Tasse Zucker aushilft? Um seinen Subwoofer zu loben? Warum noch mal? Die letzten drei Jahre hat er übrigens fast nie die Tür aufgemacht, auch wenn man nachts Sturm klingelte. Ich träumte immer davon, ihn mit zwei Metallwinkeln von außen zuzudübeln.

10.5. 2010 18:20

C. hat mir einen Stapel Jugendliteratur hingestellt, damit ich sehe, was die Kollegen so treiben, darunter drei Gewinner des Deutschen Jugendbuchpreises. Bis auf ein Buch unternimmt keins die Mühe, eine Geschichte erzählen zu wollen, sprachlich wirken sie, als wollte ein Kulturpessimist die Ansicht demonstrieren, Jugendliche könnten längere, zusammenhängende Sätze oder Gedanken weder formulieren noch begreifen.

In Heim (2004), das noch am spannendsten zu sein scheint, hingegen gleich der sprachliche Biedersinn. Erst mit „ätzend“ und „Tussi“ losgekumpelt, und dann: „Der konnte warten, bis er grün wurde!“ – „Wenn der wüßte, wofür ich mich ganz gewiß nicht interessierte!“ Ja, so redet sie, die Jugend, die sich ganz gewiß nicht dafür interessierende.

Mein Lieblingsjugendbuch neueren Datums immer noch: Holes von Sachar, das ich nicht aufblättern kann, ohne sofort das ganze Buch zu lesen. Diary of a Wimpy Kid, zur Zeit auf den Bestsellerlisten, ist auch nicht schlecht. Irgendwann ist man satt davon, aber die Einfälle sind hübsch.

Lektüre: Huckleberry Finn. Ich kann mich nicht erinnern, wann genau ich das zum ersten Mal gelesen habe. Aber dieser unfaßbare Beginn, wie Huck in seiner Kammer sitzt: „I felt so lonesome I most wished I was dead. The stars was shining, and the leaves rustled in the woods ever so mournful …“ Und dann am Ende das zweifache Miauen im Garten und: „Then I slipped down to the ground and crawled in amongst the trees, and sure enough there was Tom Sawyer waiting for me.“

Wenig hat mich, glaube ich, im Leben glücklicher gemacht als die Kieselsteine, die Stefan Büchler in der Dämmerung gegen mein Fenster schnickte. Die Abende, wo wir die letzten draußen waren, alle anderen längst im Bett. Wie wir immer auf dem Rand der Sandkiste saßen und Sandklopse formten, um uns zu erinnern, wie viele Abende zuvor wir das auch schon gemacht hatten. Wie wir auf allen vieren kilometerweit durch das Kornfeld gekrochen sind: Flucht aus der DDR. Wie er ein Taschentuch an dem Bauwagen hinter den Feldern aufhängte, wenn er Zeit hatte und ich ihn besuchen konnte. Wie er mich einmal verraten hat. Wie wir einen ganzen Tag lang versuchten, die Wurfgeschosse aus dem Stoppelfeld über die Stromleitung zu schleudern. Wie wir es schafften, den Fahrradmantel über eine Peitschenlampe zu fädeln. Wie ich aus seinem drei Meter fünfzig hohen Fenster sprang, um einem seiner Bösartigkeitsanfälle zu entkommen. Wie er mit seiner Schwester das Schachspielen entdeckte und sie mir vormachten, wie sie die Partien mit „japanischen“ Höflichkeitsverbeugungen begannen wie Kampfsportler. Wie er mir zeigte, wie man eine Schallplatte mit einem gefalteten Pappkarton und einer Stecknadel abspielen kann. Wie wir hunderte von Papierzeppelinen vom Balkon warfen. Wie wir eine Höhle unter dem Dachfirst im dritten Stock bauten und unser Bettzeug raufschleppten und dort übernachteten, als meine und seine Eltern verreist waren. Wie er mir Liebesbriefe an Annett Solty mitgab, die zufällig in meiner Klasse war. Wie er Ulf Dassow schlug, nachdem der Kai geschlagen hatte. Wie er in der schwarzen Gymnastikhose Handball spielte an der Realschule Aurikelstieg, wo mein Vater Lehrer war. Wie er die Schule schmiß. Wie er seine neuen Adressen verschwieg, weil sie ihm peinlich waren. Wie er eine Adresse in Hamburg nannte, und ich fuhr einen ganzen Nachmittag kilometerweit mit dem Rad dorthin, um festzustellen, daß es die Adresse nicht gab. Angeblich hatten sie einen Swimming-Pool dort. Das letzte Bild von ihm, die letzte Begegnung: Ich kann mich nicht erinnern. Wahrscheinlich fuhr er auf dem Mofa davon, und ich stand am Möhlenbarg und sah ihm nach.

Ungefähr in der fünften Klasse hatten wir eine Zeitlang unsere eigenen Zeitschriften mit einer Auflage von je einem Exemplar. Meine hieß ZfS, Zeitung für Schwachsinnige, wie Stefans hieß, weiß ich nicht mehr. Aber an einen seiner Artikel erinnere ich mich noch: „Pazifik entführt! Letztes Foto des Vermißten:“ – und dann ein blaues Quadrat.

Von meiner Mutter hörte ich einmal, er sei Filialleiter eines Supermarktes geworden. Ich habe ihn mehr geliebt als alle meine anderen Freunde.

11.5. 2010 00:55

Erste milde Hypochondrie. Dieses Ziehen am Kopf, der komische Druck auf den Ohren, und immer der Gedanke: Jetzt geht’s schon los. Gleichzeitig auf der Mailingliste Diskussion über Fälle, die es trotz guten MRT-Befundes nach drei oder vier Monaten zerlegt.

Ich bin trotzdem ruhig, aber ich fühle mich, als wäre ich schon nicht mehr hier, schon auf der anderen Seite. Das ist nicht schön, aber ist auch nicht mehr wichtig. Spazierengegangen an den Hackeschen Höfen vorbei, in ein Café gesetzt und an den Ausdrucken gearbeitet. Am Nebentisch ein Mann, der einer nicht deutschsprachigen Frau von einem Land erzählt, wo die Leute wahnsinnig oberflächlich sind.

Einen Ordner UNBESEHEN LÖSCHEN auf meinem Desktop eingerichtet und Freunde gebeten, gemeinsam dieser Aufforderung nachzukommen. Ich möchte, daß es am Ende mehrere sind und nicht ein einzelner, der aus Neugier oder anderen persönlichen Gefühlen auf die Idee kommt, meine Entscheidung in Frage zu stellen. Außerdem alle Festplatten und Speichermedien zerhacken, bitte. Priester sind mit Waffengewalt von mir fernzuhalten.

Und wo wir schon dabei sind: Ich hoffe, es kommt keiner auf die Idee, eine Annonce aufzugeben oder einen Kranz zu kaufen. Besauft euch im Prassnik. Meine Vorstellung einer geglückten Party war immer: Beckett / Murphy, Kapitel 12. Wenn es jemand schafft, so ein Papiersäckchen aufzutreiben, würde mich das ohne Ende erheitern. Und um das restliche Pathos gleich noch mit wegzuerledigen: Ich wünsche euch, wenn eure Stunde kommt, daß ihr Freunde habt, wie ihr es seid.

Thema Ende.

11.5. 2010 10:03

Gestern bis vier nicht geschlafen. Trotzdem kein Schlafmittel. Heute um neun aus dem Bett gesprungen, festgestellt, daß mir nichts fehlt, losgearbeitet. Harvest, Neil Young: meine erste Kassette, aufgenommen von meiner ersten Freundin. Hatte man nicht immer gesagt, diese Kassetten halten höchstens zehn, fünfzehn Jahre? Und weil die Rückspulfunktion kaputt ist, muß ich die andere Seite jetzt auch noch hören: Georges Moustaki. 1982.

11.5. 2010 13:53

Klaus Caesar und Fil schauen vorbei und zeigen mir ihr Kinderbuch. Es geht um einen Elefanten mit einer speziellen Fähigkeit. Ich finde es sehr lustig, bezweifle aber, daß ich es als Kind gemocht hätte.

11.5. 2010 17:32

Der ungeheure Trost, der darin besteht, über das Weltall zu schreiben. Heute die Szenen mit dem Sternenhimmel, mit Starship Troopers und der Entdeckung der Nacht eingebaut. Wie der Held sich erinnert, mit acht Jahren in der Dunkelheit durch den Hogenkamp gejoggt zu sein, die einzige wirklich autobiographische Stelle. Warum ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend? Und ich brauche nicht einmal den Anblick. Vorstellung und Beschreibung reichen. Als ich noch auf der Kunstakademie war, war das immer mein Einwand gegen die Abstraktion: Der Himmel. Leider war ich mit dieser Meinung ganz allein.

Gibt es in der Wissenschaft eigentlich Denkmodelle, die versuchen, die ungreifbare, nur an Sekundärphänomenen wie Veränderung und Bewegung meßbare und anstößige Größe der Zeit aus der Physik herauszurechnen?

12.5. 2010 23:49

Mit Lars und Marek in Sin Nombre. Toller Film, aber die Gewaltszenen erfreuen mich nicht. Das Sozialleben auch etwas schwierig, viele Dinge interessieren mich gerade nicht richtig. Bin in Gedanken immer bei der Arbeit. Zur Zeit wieder fast ein Kapitel pro Tag.

13.5. 2010 13:49

Erstes Tavor seit der Psychiatrie. Mal testen, was das macht.

13.5. 2010 14:01

Die Beruhigung setzt so schnell ein, daß man davon ausgehen muß, daß es nicht die Tablette ist, sondern die sofort nach Tabletteneinwurf konzentriert wiederaufgenommene Arbeit. Merken.

14.5. 2010 18:30

Nach langer Zeit wieder Fußball in der Bergstraße. Wie schon beim letzten Mal kämpfe ich mit der Nostalgie. Der Tartanplatz zwischen den Häusern, die Schwarzpappeln, der Himmel, die vielen Jahre, die ich hier jeden Sommer gespielt habe. Zwei- oder dreimal, erinnere ich mich, war ich nachts auf dem Platz, allein, wenn ich besoffen und mit einer Bierflasche in der Hand aus der Stadt kam. Ich bin über den Zaun geklettert und habe mich in die Mitte des Feldes auf den Rücken gelegt und die Sterne angeguckt, und auch, wenn ich nicht mehr sagen kann, worüber ich seinerzeit nachgedacht habe, es wird so etwas Ähnliches gewesen sein wie heute.

Den Ball treffen und Pässe schlagen und all das funktioniert, aber im Gewühl und wenn sich die Spielsituation schnell ändert, macht sich der Sichtfeldausfall als Orientierungsverlust bemerkbar. Nach einer Viertelstunde stellt sich Schwummrigkeit ein, aber nachdem ich mich entschlossen habe, einfach mehr statt weniger zu laufen, komme ich über den toten Punkt, und es macht wieder Spaß. C. holt mich ab, und im Bett versuche ich, ihr zu erklären, was ich in den letzten Wochen herausgefunden habe: daß dieses Universum nicht existiert. Oder nur in diesem Bruchteil dieser Sekunde.

16.5. 2010 4:00

Ist das anhaltende Druckgefühl an den Ohren hypochondrisch, Nebenwirkung meines mit Ohropax geführten Kampfes gegen den Lärm meiner Nachbarn oder schon das andere? Nachts um vier tobt die Party im zweiten Stock, und ich übertöne den Lärm, indem ich das Radio leise laufen lasse, Jazz auf Radio Eins. Ich döse mit meiner Wärmflasche unter der Decke und bin vollkommen ruhig und gelassen und gleichgültig. Ich könnte jetzt gehen, wenn ich wollte, es ist mir egal. Das Buch, an dem ich seit Ende März jeden Tag von morgens bis abends wie ein Irrer gearbeitet habe, ist mir egal, es ist der Welt egal, alles egal. Irgendwann schlafe ich ein, und ich schlafe sehr gut.

16.5. 2010 13:38

Lektüre: Jane Eyre. Als Helen Burns stirbt, beschreibt Jane die Welt als einen Abgrund mit nur einem einzigen Halt: der Gegenwart. Meine Worte zu C. vorgestern. Tolles Buch.

Als ich etwa 18 war, las ich mich durch die Deutsche Romantik auf der Suche nach – ja – dem großen Gefühl, in der Hoffnung, etwas Vergleichbares zu finden wie in der Malerei. Tatsächlich eine einzige Enttäuschung. Der Taugenichts entsprach am ehesten noch den Erwartungen, aber es fehlte das Düstere, Schauerliche. Mörike und Hoffmann langweilten mich milde, im Ofterdingen gab es irgend etwas, was mich ansprach, das Überspannte, Verblasene, wenn ich das richtig erinnere, aber ich las das Buch auch in einer Zeit schwerer Verstörung und als Reiselektüre auf der Fahrt nach München und Nürnberg. Dort stellte ich mich mit meiner Mappe an den Kunsthochschulen vor, völlig naiv. Ich wußte nicht mal, daß man sich einen bestimmten Professor suchen mußte, ich dachte, Qualität hätte allgemeinen Vorstellungen zu genügen. In München landete ich bei einem Abstrakten. Der Mann war nett und behandelte mich höflich, aber die ganze Situation war absurd. Abends fuhr ich mit dem Zug nach Nürnberg, wo ich keine Schlafgelegenheit hatte. Erst rüttelte der Kellner in einem Nachtcafé mich wach, wo ich über Novalis einzuschlafen drohte, dann übernachtete ich auf dem Bahnhofsklo, während zwei Penner vor der Kabine auf der Heizung saßen und sich über mich lustig machten, und las erst den Ofterdingen und dann die Lehrlinge zu Sais. Letzteres grauenvolle Lektüre, wenn man übermüdet ist, und wahrscheinlich auch, wenn man nicht übermüdet ist. Zu einer Zeit, wo ich noch nicht wußte, daß Sätze voller großer Begriffe auch einfach mal nichts bedeuten können. Schlimmer als das eigentlich nur noch Brentano.

Und was ich suchte und mir vorstellte unter dem Begriff Romantik, fand ich schließlich in Jane Eyre. Begeistert mich auch bei der Zweitlektüre. Rasend gut gebaute, schnelle Szenen.

Eigenartiger Eindruck in der Zigeunerszene: Man verkleidet sich und wird von seinen Liebsten nicht erkannt, denen man aus der Hand liest. Ob das wirklich funktioniert hat in früheren Jahrhunderten, vor der fotografischen Wahrnehmung der Welt? Der Topos ist ja weit verbreitet.

Meine Lieblingsstelle immer noch ihre einsame Wanderung. Wie sie fast verhungert, wie sie übernachtet zwischen Felsen und Heidekraut. Wo man sieht: ein Mensch. Und auch 150 Jahre nach ihrem Tod ist es immer noch: ein Mensch.

Nach dem Antrag Rochesters wird das Buch allerdings etwas verschwafelt, das ist schade.

17.5. 2010 13:07

C. hat das erste Kapitel sehr effektiv zusammengestrichen. Die Überlegungen mit dem Anwalt mußte ich wieder reinschreiben, das scheint mir zu wichtig als Information über seine Naivität, aber ansonsten ist Geschwindigkeit das Wichtigste. Hatte ich bei Plüschgewittern unendlich lang gehadert und es am Ende auch nicht hingekriegt.

18.5. 2010 15:00

Einfach mal bei Dr. Vier angerufen. Nein, an den Ohren, das hat nichts mit Glioblastom zu tun. Sofort sind alle Schmerzen weg.

23.5. 2010 15:00

Tage der Arbeit. Passig kommt und liest die erste Hälfte, findet es so mittel, Roadmovie, kein Ziel, keine Aufgabe. Nicht schlechter als Plüschgewitter, aber die waren ja auch schon mittel.

24.5. 2010 20:15

Weil ich mich selbst nicht mehr als Person wahrnehme, kommt es mir vor, als ob auch andere mich nicht mehr so wahrnehmen, sondern nur noch als Schatten, als etwas, mit dem nicht mehr zu rechnen ist. Ich versuche mich zu erinnern, wie meine Gefühle gegenüber Todgeweihten waren. Oft muß ich an Chris denken, dem ich in den letzten Tagen und Wochen immer wieder auf der Straße begegne. Ich war ihm nie nahe, und ich erinnere mich auch eigentlich nur an einen einzigen Satz aus unserer letzten Unterhaltung im NBI, wo er sagte: Ich habe mich damit abgefunden. Das fand ich mehr als erstaunlich damals. Er hatte noch drei Jahre oder so. Aber habe ich ihn noch ernstgenommen? Ich weiß es nicht mehr.

Dosiseskalation auf 390 mg, fünf Tage. Mein Magen macht sich den ganzen Tag bemerkbar, aber vor Tabletteneinwurf. Danach bleibt alles ruhig.

28.5. 2010 21:00

Patrick fragt unbefangen und ausführlich nach, der erste.

29.5. 2010 22:32

Einzige Nebenwirkung nach dem fünften und letzten Tag der Chemotherapie scheint Müdigkeit zu sein. Jetzt kann ich nicht mehr. Mein Roman langweilt mich. Kann aber auch daher kommen, daß ich zwei Monate ohne Unterbrechung von morgens bis abends gearbeitet habe. Ich versuche, mir einen freien Tag zu nehmen, woraufhin auf Jörgs Gartenparty ein erster Verzweiflungsanfall erfolgt. Vielleicht die vielen unbekannten Leute, vielleicht die Kinder, vielleicht der bürgerliche Lebensentwurf mit Haus bauen und allem. Muß kurz mit Marek vor die Tür, dann geht es wieder. Aber meine Abendunterhaltung mit Passig auch sehr monothematisch. Besser morgen wieder arbeiten.

30.5. 2010 9:12

Traum: A. ruft an und fragt, wie es mir geht. Ich sage es ihr, und der Traum ist vorbei. Seit ein paar Wochen liegt der Zettel mit ihrer Telefonnummer hier, ich schaffe es nicht, dort anzurufen.

31.5. 2010 9:57

Traum: Wir geraten in einen Banküberfall, ich stelle mich schützend vor C., wie ich das in Filmen gesehen habe, ein wenig ironisch auch. Dann merke ich, daß wirklich mehrere Gewehrmündungen auf uns gerichtet sind. C. zittert und hat Angst, ich bleibe ruhig. Als der Überfall vorbei ist, wird das Gelände in eine Rollschuhbahn umgewandelt, und ich laufe mit Per Leo Rollschuh.

31.5. 2010 20:17

Bleierne Müdigkeit. Es ist viel schwerer, unter Müdigkeit zu arbeiten als unter Konzentrationsstörungen. Den Termin Mitte Juni kann ich knicken.