Siebenunddreißig
22.2. 2013 9:11
Eine Bekannte, deren per SMS, Telefon und Mail wiederholt geäußerte Hilfs- und Besuchsangebote der letzten Wochen ich immer und immer wieder mit Hinweis auf meine zunehmende Soziophobie und Zeitknappheit abgelehnt hatte, steht unangekündigt vor meiner Tür, zwei Pappbecher mit dampfendem Kaffee in ihren Händen. Ich bitte sie zu gehen. Ich arbeite, ich habe keine Zeit. Nein, ich kann dich nicht reinlassen, nein, ich will mich nicht unterhalten, nein, ich kann nicht noch einmal frühstücken. Nein. Sie will den Kaffee dalassen. Ich bitte sie, ihn mitzunehmen. Ja, ganz sicher. Nein. Letztes Bild: Sie steht vor der Fahrstuhltür und drückt den Knopf.
Wenige Minuten später informiert eine SMS mich, daß vor meiner Wohnungstür nun eine Kleinigkeit zu essen liegt, dazu ein Kaffeebecher, dessen Inhalt kalt wird. „Ich bleibe im Auto und warte, bis du es dir überlegt hast, wenn du willst, den ganzen Tag! Komm schon, ich hab ein leckeres Frühstück dabei! Dein Kaffee steht vor deiner Tür!“
Nach längerer Zeit, in der ich immer unruhiger, ruhiger und wieder unruhiger werde, öffne ich die Tür, um die Gegenstände vor meiner Tür, die auf meiner Türschwelle, auf meiner Grenze stehen und mich bedrohen, vorsichtig zu entsorgen. Der Kaffee spritzt durch die Küche, der Becher rollt über den Fußboden, ich putze die Küche.
Nachdem ich halb epileptisch, halb sprachlos in das Handy gestammelt habe, sie möge vor meinem Haus bitte auf keinen Fall stehenbleiben, sondern nach Hause fahren, kommt eine SMS, sie fahre jetzt und habe mich lieb.
Für den Abwehrzauber des Weiterarbeitens sind meine Nerven zu gespannt. Wie bei der Jana-Krise vor drei Jahren laufe ich im Kreis durch meine Wohnung. Stunden vergehen, bevor ich mich traue, C. anzurufen. Lieber riefe ich sie nicht an. Ich weiß, daß aus meiner Stimme Panik und Irrsinn sprechen, und ich fürchte, daß sie Maßnahmen ergreift, wenn ich mich nicht verständlich machen kann.
22.2. 2013 14:31
Aus Angst vor weiterer Grenzverletzung aus dieser Richtung schließe ich die Mailingliste für Aktuelles, auf der viele, eigentlich alle meine Bekannte und Freunde mitlesen. Ich weiß nicht, ob ich paranoid bin. Keine Fragen, schreibe ich, keine Mails, keine SMS, don’t call us we call you.
Okay, ich bin paranoid.
22.02. 2013 21:30
Überstürzte Verabredung im Deichgraf. Drei Freunde, die ich ewig nicht gesehen habe, vier. Seit Wochen kein Sozialleben gehabt. Außer C., Ärzten und Supermarktkassiererinnen niemanden gesehen.
Cornelius ist der Schnellste. Unverzüglich stellt Normalität sich ein. Caroline, Kirk und Larry. Gruppensituation funktioniert überraschend gut, toll, Riesenfreude mit Schlagseite zur Manie.
23.2. 2013 4:41
Traum: Ich sitze am Abend mit Cornelius im Deichgraf, um ihm eine Geschichte zu erzählen, in deren Verlauf meine persönlichen Grenzen von außen, bildlich gesprochen, mit einem Bulldozer planiert werden, und ich erwarte, daß er mir zustimmt, daß dieser entsetzliche Vorgang tatsächlich genau so zu werten sei, wie ich es tue.
Ohne Frage, ja, erklärt er sofort in der corneliustypischen Weise, emphatische Zustimmung immer noch einmal signalisierend, ein regelrechter Exzeß der Zustimmung, ja, entsetzlich in der Tat, wiederholt er, um die Zustimmung jedoch sogleich einzuschränken: Denn eines hätte ich bei alledem doch nicht bedacht: Daß arschlange, blonde Haare und blaue Augen schon sehr geil seien.
Ja, zweifellos, richtig, beeile ich mich beizupflichten, seine Zustimmung nachahmend, jawohl, wobei ich meinerseits nun auch einschränken müsse, wie auch er, Cornelius, mit Recht einschränkte, daß er bei seiner Argumentation außer acht gelassen habe, daß nämlich er, Cornelius, einen ganz anderen Typ bevorzuge als ich, mein Typ sei doch bekanntlich der dunkle, nicht der helle, was von meinem Gegenüber mit einem begeisterten Kopfnicken abermals sogleich bestätigt wird, womit auch dieses Problem, die Beurteilung der Vorgänge des Vortags betreffend, zur allgemeinen Zufriedenheit aus der Welt geschafft sein dürfte und auch im Traum noch einmal und endgültig ad acta gelegt werden kann.
23.2. 2013 12:47
Weiter psychotisch, weiter keine Arbeit, was praktisch dasselbe ist. Zutiefst erschöpft, aber zurück ins Bett kann ich nicht. Im Liegen zucken die Beine wild, der ganze Körper, keine Epilepsie, keine Aura, keine Sprachblockade, einfach nur Panik. Aufstehen, rumlaufen, hinlegen, zucken, aufstehen. Kurz davor, in meinem imaginären Pinguinkostüm rüberzugehn in die Notfall, aber die Gefahr, nicht wieder rauszukommen, ist zu groß. Oder verursacht mir noch mehr Angst. Am Telefon mit C. entschieden, ich müsse weiterarbeiten, denn nur Arbeit hilft. Alle Panik ja immer nur dem Gedanken an die verlorene Arbeitszeit geschuldet.
23.2. 2013 14:47
Würde die Arbeit am Blog am liebsten einstellen. Das Blog nur noch der fortgesetzte, mich immer mehr deprimierende Versuch, mir eine Krise nach der anderen vom Hals zu schaffen, es hängt mir am Hals wie mein Leben wie ein Mühlstein. Ich weiß aber nicht, was ich sonst machen soll. Die Arbeit an Isa tritt auf der Stelle.
24.2. 2013 17:30
Mit Textausdruck im Deichgraf, um beim Essen Korrekturen zu machen, nichts geht. Meine vor wenigen Sekunden aufs Papier geworfenen Gedanken mir selbst komplett unnachvollziehbar, alles dunkel, nicht zum ersten Mal. Beim Spaziergang um den See dann zum ersten Mal gecheckt, daß diese auch mit äußerster Willensanstrengung und Konzentration nicht in den Griff zu kriegenden Zustände keine Folge unwiderruflicher Hirnauflösungsprozesse überm Text in Verbindung mit extremer Schlappheit sind, sondern von mir selbst unbemerkte und von keiner Aura eingeleitete lautlos vorbeireitende Anfälle.
Scheint mir jedenfalls so und wird zur Gewißheit, als der Versuch, deutsche Gedichte zu memorieren, nur noch Fetzen und sowas Ähnliches wie englische Liedtexte produziert.
Gedichte und Englisch ja immer mein Maßstab, scheinen aus welchem Grund auch immer im Zentrum meiner Anfälle zu liegen. Über den Gipfeln ist nobody, dings über den Wipfeln die Vögel im Wald, da – am Ende Ruhe.
1.3. 2013 19:18
C. holt etwas in ein rot und weiß kariertes Mäntelchen Gehülltes aus ihrer Tasche. Ich betrachte es, C. betrachtet mich. Wahrscheinlich erwartet sie eine Reaktion. Aber ich kann nicht reagieren, weil ich nicht weiß, was das ist.
Ratlos drehe ich es hin und her. Erst beim Anblick einer sonderbaren Falte im Mantel hinten beginnt sich in das Gefühl der Fremdheit langsam etwas anderes mit hineinzuschleichen, etwas nicht mehr ganz so Fremdes, geradezu grauenvoll Vertrautes: Zwei Arme, zwei Füße, kleine Zunge, schwarze Augen, und im Bruchteil einer Sekunde zerfallen vier Jahrzehnte zu Staub. Da muß ein Druckknopf sein, sage ich, und da ist ein Druckknopf: Der Bär. Willkommen, alter Gefährte.
Fassungsloser und entsetzter könnte ich nicht sein, hätte sich direkt neben mir statt des Bären der über alle Zeit unverändert gebliebene siebenjährige Stefan Büchler wie aus dem Nichts materialisiert, braungebrannte Beine, kurze Hosen, eine kleine Deutschlandfahne in der erhobenen Hand.
5.3. 2013 13:14
So könnte ich ewig sitzen. Zum ersten Mal in meinem Leben eine richtige Wohnung, schön und groß und licht und still. Ein Fenster mit Blick über die Stadt, und alles, was man durch dieses Fenster sieht, ist groß wie großes Kino. Ein Liter Tee, ein Buch, blauer Himmel, Sonne.
„Die Frevler aber holen winkend und rufend den Tod herbei und sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund; sie schließen einen Bund mit ihm, weil sie es verdienen, ihm zu gehören. Sie sagen: Kurz und traurig ist unser Leben; für das Ende des Menschen gibt es keine Arznei und man kennt keinen, der aus der Welt des Todes befreit. Durch Zufall sind wir geworden und danach werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Der Atem in unserer Nase ist Rauch und das Denken ist ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird; verlöscht er, dann zerfällt der Leib zu Asche und der Geist verweht wie dünne Luft. Unser Name wird bald vergessen, niemand denkt mehr an unsere Taten. Unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke und löst sich auf wie ein Nebel, der von den Strahlen der Sonne verscheucht und von ihrer Wärme zu Boden gedrückt wird. Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten, unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt und keiner kommt zurück.“ (Weish 1,16;2,1-5)
6.3. 2013 5:53
Guten Morgen, Sterne
Guten Morgen, schwarzer Kanal
Guten Morgen, Schornsteine, Brücken, Hochhäuser und Kräne
Guten Morgen, Viertelmond
Guten Morgen, goldschimmernde Viktoria
Guten Morgen, S-Bahn
Guten Morgen, andere Bahn
Guten Morgen, weißer Kanal
Guten Morgen, Morgenröte
Guten Morgen, Berlin
12.3. 2013 13:26
Kaum wieder auf den Füßen, die nächste Irre. Über einen alten, längst gesperrt geglaubten und ihr vor Jahren bereits mehrfach verbotenen Zugang klickt Jana via Dropbox durch meine persönliche Dateien. Sie schreibt, sie hätte mich vorher wahrscheinlich fragen müssen: „Darf ich reinschauen, ohne irgendwas zu ändern oder zu kommentieren, oder ist dann Chaos?“
Kein Chaos, nur Riesentobsuchtsanfall, Mailingliste dichtgemacht, Kontakt zu allen Freunden abgebrochen, Nervenzusammenbruch. Abbruch Stunden später wieder rückgängig gemacht, jedenfalls teilweise. Jetzt halten mich wieder alle für verrückt, nur weil Verückte mich belagern. Neben meiner Tür nun ein 35 cm langes Brotmesser. C. dagegen, aber ich stehe auf dem gleichen Standpunkt wie Horst Fricke: Die oder ich.
12.3. 2013 21:35
Spaziergang zum See, die Steinstufe ist verschwunden. Ohne den Hauptweg zu verlassen, verirre ich mich. Ich entdecke einen verborgenen Zugang zur Bucht. Ich kralle mich an einem Zaun fest. Das Eis braucht nur noch drei oder vier Nächte. Ich renne weiter den Weg, wenn man das, was ich da mache, noch rennen nennen kann, verfolgt von meiner Angst und einem Fuchs im Schnee.
14.3. 2013 9:07
Neben mir sechs ältere Patienten im Infusionszimmer. Das Radio spielt Gloria Gaynor, I will survive. Ohrstöpsel. Lektüre, Arbeit.
16.3. 2013 14:45
Eiskalt, Schnee auf der Terrasse, in der Sonne 14 Grad. Mit einem Becher Tee und in warme Decken gehüllt, halte ich das Gesicht der Sonne entgegen, die ein Drittel ihres Lebens bald auch schon hinter sich hat.
17.3. 2013 6:39
Zum ersten Mal die Maus bei Licht gesehen. Sie sitzt auf einer Schneeinsel, sieht sich nach Vogelfutter um und findet auch welches.
18.3. 1013 20:30
Im Deichgraf alle der Meinung, es müsse mit Winter nun auch mal ein Ende haben, sei doch scheiße, Joachim will im Trockenen joggen. Flocken vor dem Fenster. Find ich nicht, ich find’s toll. Der Schnee ist toll, es soll weiter schneien, immer weiter, der Winter soll nie enden.
19.3. 2013 10:17
Und es schneit. Zu Fuß die vier Kilometer zu Dr. Fünf am Kanal lang. Wege teils geräumt, teils jungfräulich. Ich trample über die aufgetürmten Seitenränder, ich nehme jede Abkürzung, rutsche über die Uferböschung hinab, ich stapfe durch die größten Wehen wie ein Fünfjähriger, Gedanke immer: Es ist vielleicht das letzte Mal, das letzte Mal, vielleicht ist es das letzte Mal. Das habe ich bei den Schuhen allerdings auch schon gedacht. Die letzten Schuhe, die letzte Hose, die letzten Johannisbeeren.
Zwischen Hauptbahnhof und Psychiatrie hindurch. Der Schnee pappt. Im Laufen mache ich einen Schneeball und werfe ihn mit einer halben Drehung nach einem Laternenmast, an dem ich gerade vorbeigegangen bin, um herauszufinden, ob ich zu den 0,5 % Zehn-Jahre-Überlebenden gehöre. Ein Meter vorbei. Man hat nur einen Versuch, oder? Oder darf ich nochmal? Nein, wie im richtigen Leben, immer nur einmal.
20.3. 2013 4:42
Traum: Meine Freunde haben zusammengelegt und mir ein Cabrio geschenkt. Am Morgen steht es im großen Zimmer wie in einem Autosalon. Kein Alfa, aber genau das Modell, das ich im Sinn hatte, als ich die Szene des Wüstenromans schrieb, wo die vier Idioten Cetrois verfolgen, cremefarben, rote Sitze.
Ich frage mich, wie meine Freunde das Auto in meine Wohnung gekriegt haben. Sie müssen es unten auseinandergeschraubt, Teil für Teil mit dem Fahrstuhl hochgefahren und in meiner Wohnung wieder zusammengesetzt haben. Ich freue mich sehr darüber, auch wenn ich nicht weiß, wie ich es wieder auf die Straße kriegen soll. Es wird wahrscheinlich hierbleiben müssen, was mich nicht beunruhigt, da ich als Epileptiker ja sowieso nicht mehr fahren darf. Und nach einer Weile des Freuens fällt mir auch ein, wie ich doch damit fahren kann: Vorsichtig bis zur Wand, dann im Rückwärtsgang zur anderen Wand und immer hin und her. Mein erstes Auto.